z-Yoga Sutra von Patanjali

Yoga Sutra von Patanjali

 

Das Yoga-Sutra ist das bekannteste Dokument der Yogaliteratur und viele Yogarichtungen sehen es als ihre Grundlage. Es wurde vor etwa 2000 Jahren in der altindischen Sprache Sanskrit verfasst. Der Autor Patanjali beschreibt in 196 extrem knapp gefassten Merk-Sätzen Philosophie und Praxis des Klassischen Yoga aufgeteilt in vier Kapitel.

Die Yoga-Philosophie ist zwar nicht die Grundlage meiner weltanschaulichen Vorstellungen, aber das Yoga-Sutra enthält doch viele wertvolle, das Mensch-Sein betreffende Aussagen. Die Knappheit der Formulierung im Original lässt allerdings für viele der einzelnen Sutren unterschiedliche, sogar einander widersprechende Auslegungen zu. Die bisher erschienenen Übersetzungen sind denn auch an zahlreichen Stellen so verschieden in ihrer Aussage, dass oft nicht erkennbar ist, dass sie sich auf das gleiche Original beziehen.

Ich habe mich bemüht, eine verständliche und möglichst werkgetreue Formulierung auf deutsch zu finden. Bei meiner Übertragung habe ich mich im wesentlichen an den Übersetzungen von J. W. Hauer und G. Feuerstein orientiert. Wer sich für eine Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem Sanskrit interessiert, findet sie z.B. unter http://12koerbe.de/hanumans/yoga.htm, …yoga2.htm, …yoga3.htm, …yoga4.htm.

© Ernst Adams, 1990/2014

 


 

DAS EINSSEIN

I,1             Es folgt die Darlegung des Yoga.

I,2             Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes.

I,3             Dann findet der Mensch sich in seinem eigentlichen Wesen.

I,4             Ansonsten glaubt er, identisch mit dem jeweiligen geistigen Zustand zu sein.

*

I,5             Es gibt fünf Arten von Bewusstseinszuständen, sie können sowohl leidbehaftet sein als auch leidbefreiend wirken.

I,6             Dies sind: die richtige Auffassung einer Sache, die falsche Auffassung, das begriffliche Denken, der traumlose Schlaf und das Erinnern.

*

I,7             Direkte Wahrnehmung, korrekte Schlussfolgerung aus Wahrem oder das verlässliche Zeugnis anderer führen zu einer richtigen Auffassung.

I,8             Eine falsche Auffassung entsteht aus unrichtigem Wissen, das nicht auf dem tatsächlichen Wesen der Sache beruht.

I,9             Begriffliches Denken basiert nur auf Wort-Wissen, ohne Bezug auf reale Dinge.

I,10           Der traumlose Schlaf ist ein Bewusstseinszustand, dessen Wesen in Nicht‑Geschehen besteht.

I,11           Erinnern heißt, erlebte Dinge nicht entgleiten zu lassen.

*

I,12           Es erfordert regelmäßiges Üben und Entsagung, das Bewusstsein unter Kontrolle zu bringen .

I,13           Üben ist das Bemühen, bei der inneren Stille zu verweilen.

I,14           Zu einer stabilen Haltung wird es erst nach langer Zeit ununterbrochenen Strebens auf rechte Art und Weise.

I,15           Entsagung umfasst die Bewusstwerdung und bewusste Beherrschung aller Wünsche nach Sichtbarem und Verheißenem.

I,16           Äußerste Entsagung erreicht man erst mit der Erkenntnis des eigenen Wesens – Gleichgültigkeit sogar gegenüber den Ur‑Wirkformen alles Existenten.

*

I,17           Das mit Erkenntnis verknüpfte Einssein ist von der Art des Analysierens und Nachdenkens und begleitet von innerer Freude und Ich-Bewusstsein.

I,18           Wird das Loslassen als Bewusstseinsinhalt geübt, erreicht man die andere Art des Einsseins; es wirkt dann nur noch ein Rest der unterbewussten Antriebe.

I,19           Es führt zum Einssein mit Vergänglichem, wenn der Bewusstseinsinhalt von der Vorstellung des Werdens geprägt ist.

I,20           Der Einswerdung der anderen gehen voraus fester Glaube und ein starker Wille, Aufmerksamkeit, die Erfahrung des erkenntnisbezogenen Einsseins und daraus gewonnenes Wissen.

I,21           Sie ist bald erreichbar für den, der seine innere Energie voll einsetzt.

I,22           Die Entwicklung dahin hängt jedoch auch davon ab, ob ein Mensch über niedrige, mittlere oder hohe Energie verfügt.

*

I,23           Ein anderer Weg zum Einssein besteht in der vollständigen Hingabe an Gott.

I,24           Gott ist ein besonderes Wesen reinen Seins, unberührt von den Ursachen des Leides und den Folgen früheren Handelns.

I,25           In ihm liegt der alles einschließende Keim der Allwissenheit.

I,26           Er ist unabhängig von der Zeit und schon von jeher geistiger Führer.

I,27           Das Wesen Gottes hat seine klangliche Entsprechung in dem Wort „om“.

I,28           Dessen Sinn erfährt man durch regelmäßiges inneres Vorsagen.

I,29           Dies führt zu beständiger Innerlichkeit, und die Hindernisse für die Yogapraxis verlieren an Bedeutung.

I,30           Das Bewusstsein wird abgelenkt durch die folgenden Hindernisse: Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Unbesonnenheit, Antriebslosigkeit, Genusssucht, ständig schwankende Weltanschauung und die Unfähigkeit, eine stabile Haltung zu erreichen oder sie aufrechtzuerhalten.

I,31           Äußerliche Begleiterscheinungen dieser Ablenkungen sind körperliches und geistiges Leiden, Niedergeschlagenheit, nervöse Unruhe und ungleichmäßiger Atem.

I,32           Die Hindernisse sind durch das Üben von innerer Einheitlichkeit zu beseitigen.

*

I,33           Um innere Ruhe zu gewinnen, begegne man den Glücklichen mit Liebe und Freundlichkeit, den Unglücklichen mit uneingeschränktem Mitgefühl, man entwickele eine heitere Wesensart gegenüber dem Guten und Gleichmut gegenüber dem Bösen.

I,34           Oder man übe das kontrollierte Ausatmen und Anhalten des Atems.

I,35           Es dient auch der inneren Ruhe, wenn man sich konzentriert nur mit einer Sache beschäftigt und keine Abschweifung erlaubt.

I,36           Oder man übe die Vorstellung, ohne Sorgen zu sein und voller Licht.

I,37           Oder man wende sein Bewusstsein jenen zu, die jede Art von Begehren überwunden haben.

I,38           Oder man nutze das aus Schlaf und Traum gewonnene Wissen.

I,39           Oder man wähle eine angemessene Art der Meditation.

*

I,40           Die Meisterung des inneren Zustandes führt zur Beherrschung des Allerkleinsten wie des Allergrößten.

I,41           Je mehr die innere Bewegtheit nachlässt, um so mehr wird man wie ein wohlgeschliffener Edelstein, der sich vom Untergrund, auf dem er ruht, durchscheinen lässt; der Wahrnehmende fällt zusammen mit dem, was er wahrnimmt und dem Vorgang des Wahrnehmens.

I,42           Dieses noch von Worten, deren Bedeutung, schon vorhandenem Wissen und von Vorstellungen durchsetzte Zusammenfallen ist von rationalem Überlegen begleitet.

I,43           Sozusagen mit dem Aufgeben seiner Eigenart erreicht das Gedächtnis die Reinheit, die allein das Wahrgenommene erstrahlen lässt, und das Zusammenfallen liegt jenseits von rationalem Überlegen.

I,44           Ebenso ist es mit dem auf feinstoffliche Dinge bezogenen Einssein, das anfangs noch tiefgründiges Nachsinnen einschließt und schließlich jenseits davon liegt.

I,45           Auch die subtilsten Begriffe und Phänomene bis zur vollkommen undifferenzierten Ur-Sache sind der Erkenntnis zugänglich.

I,46           Auf diesen Stufen des Einsseins können noch Bewusstseinsinhalte aufkeimen.

I,47           Die leuchtende Klarheit jenseits tiefgründigen Nachsinnens erhellt das innere Sein.

I,48           Die daraus erwachsende Erkenntnis ist von absoluter Wahrheit.

I,49           Sie bezieht sich auf anderes und ist ihrem Wesen nach ganz verschieden von Erkenntnis gewonnen durch Erfahrung oder Schlussfolgerung.

I,50           Der daraus entstehende unterbewusste Antrieb lässt keine anderen Antriebe mehr bestehen.

I,51           Gelingt es, auch diesen Antrieb zu überwinden, ist das Bewusstsein vollkommen unter Kontrolle gebracht, und man erreicht den Zustand des Einsseins ohne einen Keim für Bewusstseinsinhalte.

DER WEG

II,1           Grundlage der Yogapraxis sind Disziplin, selbsterforschende Vertiefung in die überlieferte Lehre und hingebungsvolles Streben zu Gott.

II,2           Das Ziel ist, den Zustand des Einsseins zu erreichen und die Leidursachen zu sublimieren.

*

II,3           Die fünf Ursachen des Leides sind: das Nicht-Wissen um die wirkliche Natur der Dinge, die Vorstellung von der Existenz des Ichs, Zuneigung, Abneigung und die Sorge um das eigene Leben.

II,4           Das Nicht-Wissen liegt den anderen Leidursachen zugrunde, sie können gerade nicht wirkend, schwach wirksam, in ihrer Wirkung unterbrochen oder stark ausgeprägt sein.

*

II,5           Nicht-Wissen ist es, Vergängliches für ewig dauernd zu halten und Unreines für rein, das leidvolle nicht als solches zu erkennen und für angenehm zu erachten und das eigentliche Wesen im Unwesentlichen zu sehen.

II,6           Die Ich-Vorstellung ist Leidursache insofern, als man sich mit dem Körper, der Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit identifiziert und darin sein eigentliches Wesen sieht.

II,7           Zuneigung entsteht aus der Verfolgung von angenehmen Gefühlen.

II,8           Abneigung entsteht aus der Verfolgung von unangenehmen Gefühlen.

II,9           Die Sorge um das eigene Leben liegt allem Lebendigen zugrunde und ist selbst dem Weisen noch eigen.

*

II,10         Diese tiefverwurzelten fünf Leidursachen sind nur durch Zurückströmenlassen zu beseitigen.

II,11         Die von ihnen herrührende geistige Bewegtheit und Unruhe sind durch Meditation unter Kontrolle zu bringen.

*

II,12         Die Leidursachen bewirken Taten und Gedanken, und deren Art und Weise hat Folgen im jetzigen und in künftigen Leben.

II,13         Solange sie bestehen, bewirken und beeinflussen sie das Geborenwerden, das Leben und die Lebenserfahrung.

II,14         Je nach Verdienst oder Schuld des früheren Verhaltens wird ein Leben eher von Freude oder von Sorge geprägt sein.

II,15         Wer jedoch innere Klarheit erreicht, erkennt, dass alles Leben schmerzvoll ist; Leid, hervorgerufen durch dem Leben innewohnende Schwankungen, Angst, die unterbewussten Antriebe und auch durch die prinzipielle Ruhelosigkeit als Folge der Dynamik der Ur-Wirkformen.

II,16         Was zu verhindern ist, ist das zukünftige Leid.

II,17         Allem Leid zugrunde liegt die im Menschen Gestalt annehmende Verbindung des Geistigen mit dem Materiellen – dessen, was im eigentlichen Sinne wahrnimmt, mit dem, was der Wahrnehmung unterliegt.

*

II,18         Die Erscheinungsweisen des Materiellen sind hell und transparent, aktiv und leicht, sowie träge und schwer; es verkörpert sich in den Elementen, in den Sinnes- und Denkorganen und liefert die Grundlage für Erfahrungen und dadurch für Befreiung.

II,19         Diese drei Ur-Wirkformen durchziehen das Besondere und das Allgemeine, vom differenziert Wahrnehmbaren bis hin zur vollkommen undifferenzierten Ur-Sache.

*

II,20         Das Geistige ist die Kraft hinter der Wahrnehmungsfähigkeit, es ist reine Bewusstheit, nimmt aber an dem Bewusstseinsinhalt des menschlichen Geistes teil.

II,21         Das Wesen alles Wahrnehmbaren erfüllt sich im Geistigen.

*

II,22         Die Welt existiert nicht mehr für jemanden, der von ihr erlöst ist, sie besteht jedoch weiterhin für die anderen, da sie allen gemein ist.

*

II,23         Durch die Verbindung mit dem Materiellen ist es dem Geistigen möglich, das eigene Wesen und das Wesen der wahrnehmbaren Welt zu erfahren.

II,24         Was die Verbindung verursacht und aufrechterhält, ist das Nicht‑Wissen.

II,25         Dessen Ende führt das Ende der Verbindung herbei – das ist die Aufhebung, die Alleinheit des Wahrnehmens.

*

II,26         Das Mittel zur Erlösung ist unermüdliches Streben nach Klarheit der Wahrnehmung.

II,27         Die daraus auf der letzten Stufe erwachsende Weisheit ist siebenfach.

*

II,28         Das Befolgen der Gebote und Übungen des Yoga, die Reinigung von Körper und Geist, führt durch Wissen zum Licht bis zur Fähigkeit klarer und unterscheidender Wahrnehmung.

II,29         Die acht Glieder des Yoga sind: Gebote zu moralischem Verhalten, Gebote zur inneren Einstellung, das Achten auf die Haltung des Körpers, die Kontrolle des Atems, Zurückgezogenheit der Sinnesorgane, das Üben von Konzentration und Meditation bezogen auf eine Idee oder eine Sache bis zum Zustand der geistigen Einheit damit.

*

II,30         Die Gebote zu moralischem Verhalten sind: Gewaltlosigkeit, Aufrichtigkeit, Nicht-Stehlen, Enthaltsamkeit und Nicht-Begehren.

II,31         Diese Gebote sind unabhängig von Lebensstand, Ort, Zeit und Umständen als großes Gelübde zu befolgen.

II,32         Die Gebote zur inneren Einstellung sind: Reinheit des Körpers und des Denkens, Zufriedenheit, Disziplin, selbsterforschende Vertiefung in die überlieferte Lehre und hingebungsvolles Streben zu Gott.

II,33         Um unliebsame Erwägungen zurückzudrängen, richte man seine Gedanken auf das jeweilige Gegenteil.

II,34         Besonders bemühen sollte man sich um die obigen Gebote wie Gewaltlosigkeit usw.; denn ob man nun eine schlechte Handlung selbst begangen hat, sie veranlasst oder gebilligt hat, ob sie aus Begierde, Zorn oder Verwirrtheit heraus geschah, ob es sich um ein leichtes oder ein schweres Vergehen handelt, ihre Ausführung oder der Gedanke daran erzeugen immer wieder Leid und verhindern Erkenntnis.

*

II,35         Wer in seinen Taten und Gedanken Gewaltlosigkeit verwirklicht, in dessen Umgebung hört Gewalt auf.

II,36         Wer fest in der Wahrheit verwurzelt steht, dessen Worte und Taten kommen unmittelbar zur Wirkung.

II,37         Wer nichts stiehlt und nur behält, was ihm wirklich gehört, wird ein reicher Mensch.

II,38         Wer enthaltsam lebt, gewinnt an Kraft.

II,39         Nur wer nichts begehrt und nichts festhält, erkennt den Sinn seines Lebens.

*

II,40         Die Reinheit des Körpers und Denkens führt zu einem größeren Abstand gegenüber körperlichen Dingen, auch in den Beziehungen zu anderen Menschen.

II,41         Bewusste und unbewusste Vorgänge werden klarer, man wird erfüllt von innerer Heiterkeit, die sonst vorherrschende Zerstreutheit weicht einem zielgerichteten Streben, man ist der Wechselhaftigkeit der Sinne und Organe weniger unterworfen, und es wächst die Neigung und die Fähigkeit, das eigene innerste Wesen zu betrachten.

II,42         Wer es versteht, unter allen Lebensumständen zufrieden zu sein, gewinnt unübertroffenes Glück und Freude.

II,43         Disziplin in Bezug auf den Körper beseitigt Unreinheiten und bringt sämtliche Organe und Funktionen zur Gesundheit.

II,44         Selbsterforschende Vertiefung in die überlieferte Lehre führt den Menschen zum Absoluten in sich.

II,45         Durch die Hingabe an Gott erfährt das Üben des Einsseins seine Vollendung.

*

II,46         Die richtige Körperhaltung ist stabil und angenehm.

II,47         Sie ist gekennzeichnet durch das Nachlassen jeder Anstrengung und das Zusammenfallen mit dem Unendlichen.

II,48         Dann ist man auch gegen extreme Umstände gefeit.

*

II,49         Wenn das erreicht ist, folgt die Kontrolle des Atems, die bewusste Änderung des normalen Flusses von Ein- und Ausatmung.

II,50         Diese besteht in kontrolliertem Ausatmen, Einatmen und Nicht-Atmen, Atmen in vorgegebenem Rhythmus und verlangsamtem oder beschleunigtem Atmen.

II,51         Die vierte Art des Atmens liegt jenseits von Einatmung, Ausatmung und Anhalten des Atems.

II,52         Dies führt endlich zur Auflösung des Schleiers, der das innere Licht bedeckt.

II,53         Und das Denken wird fähig zur Konzentration.

*

II,54         Die Zurückgezogenheit der Sinnesorgane zu üben, heißt, sie von ihren Objekten losgelöst zu halten und sie nur gleichsam der Eigenform des Bewusstseins entsprechen zu lassen.

II,55         Dadurch erreicht man den höchsten Gehorsam der Sinne.

DAS ZU ERREICHENDE

III,1          Konzentration ist die Bindung des Bewusstseins an eine Stelle.

III,2          In der Meditation ist der Bewusstseinsinhalt stetig darauf ausgerichtet.

III,3          Im Zustand des Einsseins verliert das Bewusstsein die ihm eigenen Merkmale und gibt nur noch die Sache selbst wieder.

*

III,4          Die letztgenannten Stufen bilden den Vorgang der meditativen Versenkung.

III,5          Durch deren Meisterung wird das Wesen einer Sache oder Idee erkannt.

III,6          Diese Erkenntnis geschieht in einzelnen Schritten.

III,7          Gegenüber den vorausgehenden bilden die drei Stufen der Versenkung die inneren Glieder des Yoga.

III,8          Sie haben jedoch immer noch äußerlichen Charakter gegenüber dem Einssein ohne Keim für Bewusstseinsinhalte.

*

III,9          Die zur Kontrolle des geistigen Zustandes führende Wandlung lässt in Verbindung mit dem Bewusstsein im Moment der Kontrolle solche unterbewussten Antriebe entstehen bzw. untergehen, die der Kontrolle dienlich bzw. hinderlich sind.

III,10        Ebenfalls aufgrund unterbewusster Antriebe verläuft der Fluss dieses Bewusstseins dann in vollkommener Ruhe.

III,11        Die Wandlung zum Einssein lässt die Offenheit des Bewusstseins für Wahrnehmungen abnehmen und die Ausrichtung auf nur eine Sache immer stärker hervortreten.

III,12        Die Wandlung zum Zustand der vollkommenen Gerichtetheit ist vollzogen, wenn der jeweils aufkommende Bewusstseinsinhalt immer der gleiche ist.

*

III,13        Damit lassen sich die Wandlungen der Elemente und Sinnesorgane verstehen, innerer Eigenschaften, äußerer Merkmale und des allgemeinen Zustandes.

III,14        Der Träger von Eigenschaften – stille, offenbare und unbestimmbare – folgt in seinen Wandlungen deren Veränderungen.

III,15        Die Verschiedenheit der Abfolge dieser Veränderungen bedingt die Verschiedenheit der Wandlungen.

*

III,16        Durch meditative Versenkung über die obige dreifache Wandlung erreicht man Wissen um Vergangenheit und Zukunft.

*

III,17        Das Verständnis einer Sache ist oft getrübt durch die Gleichsetzung ihrer tatsächlichen Bedeutung mit ihrer Beschreibung in Worten und den Vorstellungen, die man von ihr hat; erst die meditative Versenkung über diese streng zu trennenden Aspekte bringt wirkliches Wissen von Dingen und Lauten.

*

III,18        Die direkte Wahrnehmung der unterbewussten Antriebe führt zum Wissen über die eigene Vergangenheit vor dem derzeitigen Leben.

*

III,19        Die Wahrnehmung des Bewusstseinsinhaltes erlaubt Einsicht in das Bewusstsein anderer.

III,20        Diese erstreckt sich jedoch nicht auf den Gegenstand, auf dem das Bewusstsein ruht, denn dieser ist kein Teil davon.

*

III,21        Durch tiefe Meditation über den Körper und seine Funktionen erreicht man das Verschwinden, indem die Wahrnehmungsfähigkeit aufgehoben wird – das Gesehene hört im Auge auf zu sein.

III,22        Ebenso ist es mit dem Verschwinden von Tönen und anderen Sinneseindrücken.

*

III,23        Die Wirksamkeit des Vergangenen in der Gegenwart ist manchmal deutlich erkennbar, manchmal nicht; wer diesen Zusammenhang in meditativer Versenkung erforscht, kann Unheil oder Tod voraussehen.

*

III,24        Durch meditative Versenkung über Freundlichkeit, Mitgefühl usw. gewinnt man innere Kraft.

III,25        Wer das Wesen der Kraft versteht, gewinnt die Kraft von Elefanten usw.

*

III,26        Durch Ausrichtung der geistigen Aktivitäten gelingt es, Licht auch auf subtiles, verstecktes und entfernt liegendes zu werfen und dieses zu erkennen.

*

III,27        Die Sonne als Objekt der Versenkung führt zum Wissen um das Universum.

III,28        Das Wissen um den Mond enthält das Wissen um die Anordnung der Sterne.

III,29        Aus der Kenntnis des Polarsterns lassen sich deren Bewegungen erklären.

*

III,30        Konzentration auf das Innere des Leibes führt zum Verständnis für die Funktionen des Körpers.

III,31        Hunger und Durst lassen sich kontrollieren, indem man sich auf das Innere des Halses konzentriert.

III,32        Konzentration auf das Innere des Brustkorbes bringt Festigkeit.

III,33        Meditative Versenkung über das innere Licht führt zur Anschauung derjenigen, die Vollkommenheit erreicht haben.

*

III,34        Oder alles wird erreicht durch plötzliche Erleuchtung.

*

III,35        Im Herzen liegt das Wissen um das Bewusstsein.

*

III,36        Sogar der reine Wesenskern des Bewusstseins ist absolut getrennt vom eigentlichen Selbst; Welt – Erleben basiert auf der Vorstellung, sie seien identisch; erst durch meditative Versenkung über den Zweck des einen und den Sinn des anderen kommt man zum Wissen um das Selbst.

III,37        Daraus ergeben sich plötzliche Erleuchtungen im Bereich des Hörens, Fühlens, Sehens, Schmeckens und des Riechens.

III,38        Nach außen sind dies außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeiten, dem Zustand des Einsseins sind sie jedoch hinderlich.

*

III,39        Gelingt es dem Bewusstsein, den Grund für die Bindung an den Körper zu lockern und diese zu lösen, kann es in einen anderen Körper eintreten.

III,40        Durch Meisterung des aufsteigenden Atems wird es möglich, sich aus Wasser, Schlamm und Dornen zu lösen und zu erheben.

III,41        Der Meisterung des mittleren Atems folgt der Zustand leuchtender Verklärung.

III,42        Durch meditative Versenkung über die Beziehung zwischen Ohr und Raum gewinnt man überirdisches Gehör.

III,43        Durch Versenkung über die Beziehung zwischen Körper und Raum gelingt es, die Leichtigkeit von z.B. Baumwolle zu verinnerlichen und den Raum zu durchqueren.

III,44        Es gibt einen Bewusstseinszustand, der nicht an einen Körper oder eine Form gebunden ist; als Folge dessen schwindet der Schleier vor dem inneren Licht.

*

III,45        Durch meditative Versenkung über die grobe wie die feine Struktur von Dingen, ihre besondere Eigenart, ihre Verbundenheit mit und Sinn in Bezug auf andere Dinge erreicht man Meisterschaft über die Elemente.

III,46        Daraus erwachsen übernatürliche Fähigkeiten, Vervollkommnung des Körpers und Unzerstörbarkeit seines Wesens.

III,47        Vervollkommnung des Körpers meint Schönheit, Anmut, Stärke und Widerstandsfähigkeit.

*

III,48        Durch meditative Versenkung über die besondere Eigenart des Wahrnehmungsvorganges, dessen ich-formenden Aspekt sowie über die Eingebundenheit und die vom Zweck bestimmte Funktionsweise der Wahrnehmungsorgane erreicht man Meisterschaft über die Sinne.

III,49        Daraus erwachsen geistige Gewandtheit, Unabhängigkeit des Geistes von den Organen und Beherrschung der Materie.

*

III,50        Allein wer einsieht, dass das weltliche Sein auch in seiner reinsten Form nicht das eigentliche Wesen des Menschen darstellt, bringt es zur Meisterung aller Lebensumstände und umfassender Weisheit.

III,51        Wer auch noch diese Errungenschaft leidenschaftslos hingibt, zerstört die Keime aller Unreinheiten des Geistes und gelangt zur Alleinheit.

*

III,52        Selbst Verführungen auf höchster Stufe gegenüber darf man weder nachgeben noch darauf stolz sein; dies erweckte nur wieder die unerwünschten Neigungen.

*

III,53        Meditative Versenkung über die Zeit und ihre Abfolge in Momenten führt zu, aus der Fähigkeit der klaren Unterscheidung entspringender Erkenntnis.

III,54        Dann können auch Dinge und Erfahrungen unterschieden werden, die sonst identisch scheinen in Wesen, Merkmalen und Zusammenhang.

*

III,55        Die aus klarer Unterscheidung entspringende Erkenntnis überschreitet die erfahrbare Welt, umfasst alle Dinge, auch in ihrer zeitlich veränderten Form und ist unmittelbar.

*

III,56        In der Alleinheit ist das weltliche Sein an Reinheit dem eigentlichen Wesen des Menschen gleich.

DIE ALLEINHEIT

IV,1          Außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit ist entweder von Geburt an vorhanden oder entsteht mit dem Gebrauch von Drogen, dem Aufsagen von Mantren, durch Askese oder meditative Versenkung.

*

IV,2          Die Wandlung der Existenzformen ist Folge und Ausdruck des Überflusses der Natur.

IV,3          Die das jeweilige Einzelschicksal formenden Kräfte sind nicht die Ursache für den Lauf der Welt, sondern sie wählen aus den Möglichkeiten aus und lenken – so wie ein Bauer das Wachstum der Pflanzen beeinflusst.

*

IV,4          Es gibt ein universelles Ich-Prinzip, woraus sich jedes einzelne Bewusstsein ableitet.

IV,5          Auch wenn die vielen aus dem Einen hervorgehen, ist doch jedes Bewusstsein einzigartig.

IV,6          Das durch Meditation sich entwickelnde Bewusstsein wird frei von den Einflüssen früheren Handelns und wird auch nicht zur Ursache künftigen Leides.

IV,7          Das Verhalten eines Yogis zieht weder Verdienst noch Schuld nach sich, während die Taten und Gedanken anderer einen Eindruck des Verdienstes, der Schuld oder einen gemischten Eindruck hinterlassen.

IV,8          Zu gegebener Zeit wirken sich diese Eindrücke auf das Leben aus.

IV,9          Aufgrund der Ein-Heit der unterbewussten Antriebe und des Gedächtnisses steht die Auswirkung in ursächlichem Zusammenhang mit Taten und Gedanken, auch wenn diese lange vorher stattfanden, an einem anderen Ort oder sogar in einem anderen Leben.

*

IV,10        Die unterbewussten Antriebe sind ohne Anfang, so wie der Drang zur Entfaltung der Welt innewohnt und keinen Anfang hat.

IV,11        Die Entstehung der Eindrücke basiert auf den fünf Leidursachen, dem Zweck des jeweiligen Handelns und der Hinwendung zu weltlichen Dingen, und mit dem Verschwinden dieser Faktoren entstehen auch keine neuen Eindrücke mehr.

*

IV,12        Das schon Gewesene und das noch nicht Gewesene existieren in ihrer jeweils eigenen Art, so wie Vergangenheit und Zukunft der Wesensformen von verschiedener Seinsform sind.

IV,13        Die drei Ur-Wirkformen machen die Wesensformen aus, seien diese sichtbar oder verborgen.

IV,14        Ein Objekt entsteht und existiert in seiner Eigenart, wenn die Träger der Ur-Wirkformen sich dafür im Einklang befinden.

*

IV,15        Aus der Verschiedenheit eines Bewusstseins vom anderen, auch während sie dasselbe Objekt wahrnehmen, lässt sich schließen, dass Welt und Vorstellung zwei tatsächliche unterschiedliche Seinsweisen sind.

IV,16        Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass ein Objekt nur in Bezug auf das Eine Bewusstsein existierte; denn was hieße es dann „zu sein“?

*

IV,17        Ein Bewusstsein erkennt ein Objekt in dem Maße, wie es von diesem gleichsam gefärbt wird.

IV,18        Das dem Bewusstsein übergeordnete Selbst hingegen unterliegt keinen Veränderungen und erkennt dessen Zustand immer und unmittelbar.

IV,19        Da das Bewusstsein also wahrgenommen wird, ist es nicht die Quelle der Wahrnehmungskraft an sich.

IV,20        Und ein Bewusstsein kann nicht Objekt der eigenen Wahrnehmung sein.

*

IV,21        Könnten sich ein Bewusstsein und ein anderes gegenseitig erkennen, müssten sie auch diese Erkenntnis erkennen, die Erkenntnis dieser Erkenntnis usw., was die Fähigkeiten des Gedächtnisses überforderte.

*

IV,22        Die bewusste Erfahrung der Erkenntnis ist dadurch möglich, dass die universelle, ewig gleiche Bewusstheit ein Bewusstsein erfüllt.

*

IV,23        Erst ein sowohl vom Geistigen an sich als auch vom Materiellen gleichsam durchfärbtes Bewusstsein kann seinem eigentlichen Zweck dienen.

*

IV,24        Das Bewusstsein ist zwar durchsetzt von unzähligen Eindrücken früherer Taten und Gedanken, aber aufgrund der Gemeinschaft mit dem Geistigen dient es doch ausschließlich dessen Befreiung.

*

IV,25        Wer erkennt, dass das Bewusstsein einerseits und das eigentliche Wesen des Menschen andererseits fundamental verschieden sind, verliert die Bindung an sein weltliches Selbst.

IV,26        Dann strebt das Bewusstsein unaufhaltsam nach vollständiger Klarheit und Unterscheidung, der inneren Neigung folgend zur Alleinheit.

IV,27        Auch dies wird noch unterbrochen von Bewusstseinsinhalten, die von unterbewussten Antrieben stammen.

IV,28        Deren Aufhebung ist die gleiche wie die der Leidursachen, welche bereits erklärt wurde.

IV,29        Wer auch in diesem erhabenen Zustand nicht verweilt, erreicht mit alles durchdringender unterscheidender Wahrnehmung das endgültige Einssein – erfüllt und getragen allein von ewiger Ordnung.

IV,30        Die Auswirkungen der Leidursachen und des früheren Handelns hören auf.

IV,31        Umfassende unendliche Erkenntnis ist erreicht, alle Umhüllungen und Trübungen sind beseitigt, und es bleibt wenig mehr zu wissen übrig.

IV,32        Die Ur-Wirkformen haben ihren Zweck erfüllt, und die Abfolge ihrer Wandlungen kommt zum Ende.

IV,33        Die Abfolge besteht aus einzelnen Momenten und ist erst erfassbar am Schluss einer Wandlung.

IV,34        Die Ur-Wirkformen haben für das Selbst keine Bedeutung mehr und strömen zurück; es herrscht Alleinheit – die Kraft des Geistigen ruht in ihrem eigenen Wesen. Ende.