z-Welches Ich bin ich?

Welches Ich bin ich?

Gedanken zur eigentlichen Identität des Menschen

 

von Dr. Ernst Adams

 

Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, Stille erfahren zu können. Anhaltende Stille, reines Sein – kein Gedanke, kein Gefühl, nur die Erfahrung von Existenz. Erleuchtete sprechen davon, Mystiker, Zen-Meister. Keine Meditationstechnik gibt jedoch die Gewähr, dass es einmal still werden wird in uns. Niemand kann es einem beibringen. In diesem allerinnersten Bereich ist man ganz allein und auf sich gestellt. Dort findet Selbsterkenntnis im tiefsten Sinne statt.
Dass wir dieses Stillsein in uns nicht erreichen, liegt hauptsächlich daran, dass wir unsere Gedanken mit unserem eigentlichen Ich verwechseln.

 


 

Es ist immer etwas los in unserem Gehirn. Sogar im Schlaf, aber auf jeden Fall im Wachzustand, erleben wir ständig etwas in uns. Es sind fast ausschließlich in Worte gefasste Gedanken, die im Bewusstsein auftauchen. Entweder tauchen Erinnerungen auf oder wir planen und denken an die Zukunft, so wie unser Gehirn sie sich ausmalt. Selten ist es so, dass wir uns bewusst entscheiden, an ein bestimmtes Ereignis oder eine zu bewältigende Aufgabe zu denken. Fast immer geschieht das Denken von alleine und wir erleben es. Oft fühlt man sich gequält von diesem ständigen Geplapper, von seinen eigenen Ängsten oder Sorgen. Selbst die ganz klare Einsicht, dass das Denken an eine gewisse Sache jetzt überhaupt keinen Sinn hat, vollkommen nutzlos ist, hilft in der Regel nicht, es zu beenden. Wir sagen zwar, „ich denke das“, tatsächlich denkt jedoch das Gehirn, ohne dass wir uns dafür entschieden haben zu denken. Das Gehirn macht, was es will.

Hier begegnen wir einem Konflikt, einem Widerspruch, den kaum ein Mensch je löst. Einerseits empfinde ich mich als ein autonomes Wesen. Ich habe den Eindruck, dass ich mich entscheiden kann, etwas zu tun, an etwas Bestimmtes zu denken oder über etwas nachzudenken. Ich scheine darin einen eigenen Willen zu haben und eine Freiheit. Ich verfüge in einem gewissen Rahmen über meinen Körper und mein Gehirn.

Andererseits sind sowohl mein Körper als auch mein Gehirn auch selbstständig tätig. Mein Herz schlägt, ohne dass ich es bestimme und unzählige körperliche Prozesse finden statt ohne mein Wissen und ohne dass ich sie beeinflussen kann. Auch mein Gehirn verarbeitet ständig Millionen von Eindrücken und steuert die körperlichen Vorgänge, ohne dass es mir bewusst ist. Damit habe ich kein Problem, weil all dies im Wesentlichen mir dient und mich nicht stört. Es ist sogar gut so, dass die lebenserhaltenden Prozesse von alleine ablaufen und ich mich nicht darum kümmern muss.

Aber wie wäre es, wenn mein Körper von alleine plötzlich loslaufen würde, obwohl ich stehen bleiben möchte? Wenn der Körper regelmäßig Bewegungen machen würde, die von mir nicht gewollt sind und auch nicht beendet werden können, würde ich vielleicht zu einem Arzt gehen und mich untersuchen lassen. Was das Gehirn angeht, erleben wir jedoch dauernd, dass es sich selbstständig macht und keineswegs unserer Befehlsgewalt untersteht. Einerseits können wir über das Gehirn verfügen, es stellt uns Erinnerungen zur Verfügung, ermöglicht die Lösung von Aufgaben und das Verstehen unserer Welt, so dass unser Leben einfacher und sicherer wird. Aber die meiste Zeit plappert es unnützes Zeug, das wir nicht beenden können. Man fühlt sich machtlos. Wer hat denn nun das Sagen in meinem Gehirn?

Der Widerspruch rührt daher, dass wir uns mit dem Inhalt des Denkens identifizieren. Wir haben den Eindruck, dass dieser innere „Sprecher“ eins ist mit unserem innersten Wesen. Im Gegensatz zum Körper, den wir als verschieden von unserem innersten Ich-Sein wahrnehmen, scheint alles, was im Bewusstsein geschieht, „ich“ zu sein. In gewisser Weise haben wir den Eindruck, dass wir unseren Körper haben, während wir unser Gehirn sind.

 

Was meinen wir mit „ich“?

Wenn wir unsere geistigen Abläufe und das Bewusstsein genauer erfassen wollen, müssen wir sorgfältig mit dem Wort „ich“ umgehen. In unserer Empfindung und auch in der sprachlichen Verwendung hat es nämlich zwei Bedeutungen.

Fast immer meinen wir mit „Ich“ das eher äußerliche an uns, diese Person, die einen Namen hat, eine Geschichte, Charaktereigenschaften usw.: „Ich heiße so und so, ich gehe gerne spazieren.“ Dieses Ich ist identisch mit unserer Vergangenheit, den Fähigkeiten, Gewohnheiten und Konditionierungen des Gehirns. Um es sprachlich unterscheiden zu können, benutzen wir dafür ab hier das Wort „Ego“. „Ego“ ist hier nicht abwertend sondern neutral gemeint, soll also z. B. nicht ein übertriebenes Selbstbewusstsein bezeichnen.

Was das innere Empfinden angeht, lässt sich das Ego mit dem Denksystem gleichsetzen, mit allem jemals Erlebten, Gedachten, mit den Meinungen und Denkmustern. Es hat seine eigenen Gesetze, seine eigenen Absichten. Es ist vor allem am Überleben und Wohlbefinden des Körpers interessiert, dessen Teil es ist. Es nimmt sich als getrennt von anderen wahr und will etwas Besonderes sein. Gott, Liebe, „Einssein mit allem“ kann das Ego nicht verstehen. Seine Verirrung geht so weit, dass es sogar in sich einen Kampf führt, sich mit Schuldgefühlen oder Selbstvorwürfen plagt. Stillsein ist dem Ego nicht möglich, denn es ist ständig bemüht zu wissen, was los ist, braucht ständig das Gefühl von Sicherheit. Sein wesentliches Gefühl ist Angst.

Es gibt jedoch in uns auch noch die Empfindung eines allerinnersten Kerns, einer Instanz, von der aus wir uns erleben. Von da aus nehmen wir wahr, dass wir denken, dass wir müde sind, dass wir verwirrt sind. Aber dieses innerste „Ich“ denkt nicht, ist nie müde und nie verwirrt. Es ist nur gewahr. Für dieses Gewahrsein, das noch ohne Verstehen ist, reservieren wir ab jetzt das Wort „Ich“. Es existiert als innerste Erfahrung und hat eventuell keine materielle Entsprechung. Es ist der innerste Sinn von Identität in uns, immer von gleicher Qualität, der allerinnerste Beobachter. Er ist immer still, kennt keine Bewertung oder Verurteilung. Sehr früh in unserem Leben verschieben wir allerdings sozusagen unseren Identitätspunkt vom Ich auf das Ego. Damit beginnt das Leiden.

 

Was heißt es, etwas zu erkennen?

Um diesen „Irrtum“ auflösen zu können, hilft es, wenn wir uns anschauen, was in unserem Gehirn geschieht, wenn wir eine Erfahrung machen, wenn wir etwas erkennen. Wir müssen dabei unterscheiden zwischen Wahrnehmen und Erkennen. Vor jedem Erkennen findet nämlich zuallererst eine Wahrnehmung statt, die noch nicht weiß. Ein Geräusch hören und es erkennen sind zwei Vorgänge. Ich höre einen Laut, und erst dann erkenne ich das Vogelzwitschern. Das Gehirn vergleicht das Gehörte blitzschnell mit früher Gehörtem und dadurch wird mir dann bewusst, dass es von einem Vogel stammt. Genauso beim Sehen und den anderen uns möglichen Wahrnehmungsarten. Wir können meist gar nicht mehr eine uns bekannte Blume sehen, ohne sofort zu erkennen, welche es ist. Betrachten wir diesen Vorgang etwas genauer an diesem Beispiel.

Wenn wir eine Rose anschauen, entsteht unmittelbar in unserem Gehirn ein Bild, besser gesagt ein Gesamteindruck von der Rose, der alles beinhaltet, was wir gerade erleben. Bezeichnen wir diesen als [Rose]. Da unsere Fähigkeit der Wahrnehmung begrenzt ist auf unsere Sinne, ist [Rose] keineswegs eine vollständige Darstellung der Wirklichkeit. Wir nehmen nur bestimmte optische Wellenlängen wahr, riechen nur bestimmte Gerüche und überhaupt mag es Wahrnehmungsarten geben, über die wir nicht verfügen. Vielleicht sendet die Rose ja Signale aus, die wir nicht wahrnehmen können. Aber [Rose] ist das beste und unmittelbarste an Wahrnehmung, was uns möglich ist.

Im Denksystem unseres Gehirns geschieht jedoch sofort ein Abgleichen mit früher Erlebtem. Das Gehirn will sozusagen Bescheid wissen, es erträgt keine Unsicherheit, welche es immer als Gefahr empfindet. Blitzschnell „erkennt“ das Denken die Rose. Das Denken „sieht“ nicht die Rose, es „erkennt“ sie. Sie ist bereits bekannt, ist nichts Neues. Es gibt bereits eine Kategorie „Rose“, in welcher alles Wissen über Rosen und was damit zusammenhängt, gespeichert ist. Im Denksystem gibt es die „Rose“ schon, Wissen über die Rose, und dazu noch tausende von Assoziationen. Dazu wird nun die aktuelle Begegnung mit dieser Rose als nichts besonders Neues hinzugefügt. Nennen wir diesen ganzen Komplex [[Rose]]. Er besteht im wesentlichen aus dem, was wir sowieso schon wissen. Er hat mit dieser Rose noch weniger zu tun als das, was wir als [Rose] mit den Sinnen unmittelbar wahrgenommen haben. Nicht nur wird die Rose mehr oder weniger mit dem schon Bekannten gleichgesetzt, wir wissen, dass das Gehirn auch noch Informationen ausfiltert, die einer Einordnung entgegenstehen. Es interpretiert das Gesehene sogar eventuell um, damit es in das bestehende Denksystem passt.

 

Was nehme ich wahr?

Das Ich, das allerinnerste ursprüngliche Gewahrsein hat nun zwei Möglichkeiten. Es kann sich auf das von den Sinnen erzeugte [Rose] richten oder auf das vom Denksystem erzeugte [[Rose]]. Ersteres entspräche unmittelbarem Gewahrsein, so unmittelbar wie uns das möglich ist. Im zweiten Fall ist man sich dessen gewahr, was das Denken aus dem Wahrgenommenen gemacht hat. Das Ich schaut sozusagen ins Denksystem und wird dessen Auswertung des Wahrgenommenen gewahr. Das tun wir fast ausschließlich. Wir schauen ständig auf unser vom Denken konstruiertes Bild von der Welt und halten es für die Welt. Wir merken nicht, dass das, was wir als Wahrgenommenes ansehen, tatsächlich von unserem eigenen Denken vorher gefiltert und möglicherweise verändert wurde. Ein unvoreingenommenes Wahrnehmen der Welt ist dadurch nicht möglich.

Die andere noch schlimmere Folge dieser nahezu permanenten Ausrichtung ins Denken ist, dass wir schließlich sogar glauben, dass wir es seien, der da denkt. Damit verlieren wir unsere Freiheit. Wir binden unsere Identität an die Vorgänge im Gehirn, ein Organ, dessen Abläufe weitgehend ohne unser Wollen ablaufen. Wenn es vor lauter Gedanken nicht still ist in mir, dann liegt es eben nicht daran, dass ich zuviel denke, sondern daran, dass ich meine Aufmerksamkeit dauernd ins Denken richte.

In unserer Sprechweise identifziert sich also das Ich mit dem Ego. Damit beginnt das ganze Elend, das Leiden unseres Lebens. Es endet erst, wenn wir diese Verknüpfung wieder lösen, wenn wir lernen, dem Denken weniger Beachtung zu schenken, eben nur, wenn wir es gerade brauchen. Um sich der Anziehungskraft des Denkens zu entziehen, lenkt man die Aufmerksamkeit auf das Wahrnehmen. Vielleicht ist dieses Lenken der Aufmerksamkeit überhaupt die einzige Freiheit, die wir haben. Man übt also zu fühlen, lauschen, schauen, ohne dabei zu erkennen. Man übt, in der reinen Wahrnehmung zu bleiben. Jedes Auftauchen von Worten, Beschreibungen, Bildern ist ein Zeichen, dass das Gewahrsein wieder ins Denken gerichtet ist.

Bei dieser Aufgabe, gegenüber diesem Umschwung vom unmittelbaren Wahrnehmen zum Denken darüber wachsam zu bleiben, kann einem niemand helfen. Da ist jeder ganz allein. In der ersten Zeit ist das absichtliche Richten des Gewahrseins auf das Wahrnehmen noch ein Tun, welches immer auch noch geringfügig auf Denken beruht. Es ist ein Immer-wieder-weggehen vom Denken ins Fühlen. Dadurch verlieren die automatisch ablaufenden Denkprozesse langsam an Energie. Sie stören einen weniger, sind bald nur noch schwach im Hintergrund wahrnehmbar. Wenn ein Gedanke dennoch auftaucht, nimmt man ihn einfach wahr, beschäftigt sich nicht damit und wehrt sich auch nicht dagegen. Dann verschwindet er sofort wieder.

 

Ein langer Weg

Mit der Zeit fällt es leichter, im unmittelbaren Wahrnehmen zu verweilen. Es wird zu einem Zustand und das Tun kann aufhören. Erst nur wenige Sekunden, dann immer länger erlebt man Stille. Man hört, sieht, fühlt, ohne dass das Denken sich einschaltet. Ein Sein ohne Erinnerung.

Sich vom Ego zu lösen, ist wohl der schwierigste Prozess, den man als Mensch auf sich nehmen kann, denn er bringt das Gefühl des vollständigen Identitätsverlustes mit sich. Das Ego kämpft um seine Existenz und wehrt sich. Es macht uns Angst, argumentiert gegen diesen Prozess, lockt mit dem Verstehenkönnen. Unendlich fein sind die Mittel des Denkens, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es erfordert ein langes Ringen mit sich selbst, sein Denken zu verstehen und frei davon zu werden. Aber erst dann ruht ein Mensch in seinem eigentlichen Sein.


 

Erschienen Jan. 2007, „YOGA aktuell“