Von einem, der auszog, aber das Fürchten nicht verlernte

Eines Tages hatte der Mann genug von seinem derzeitigen Leben und den Sorgen und dem Leid, das es mit sich brachte. Er ging auf Wanderschaft, fest entschlossen, so lange die Welt zu durchforschen, bis er etwas Besseres gefunden hatte, als ihm sein jetziges Leben bot. Er besorgte sich Landkarten, eine entsprechende Ausrüstung und marschierte los.
Was er alles erlebte und wie lange er durch die Welt zog, ist für unsere Geschichte nicht von Bedeutung. Es geht nur um diesen einen Tag, an dem er an diesem einen Ort ankam.

Er hatte gerade ein hügeliges Gelände durchquert und vor ihm lag ein breites Tal, als er mit Erschrecken auf eine gewaltige Spalte im Boden traf. Sie war breit und tief genug, um einem etwas Angst zu machen, und die Wände fielen steil nach unten ab. Es sah nicht so aus, als gäbe es einen Weg drum herum, sie reichte vom Horizont im Westen bis zum Horizont im Osten. Aber das hätte den Wanderer nicht aufhalten müssen. Sie war nicht so breit, dass er sie nicht mit einem beherzten Sprung hätte überqueren können.

Was den Wanderer stutzig machte, war ein Hinweisschild, auf dem sinngemäß stand, dass jeder, der die Spalte überquerte, auf der anderen Seite Frieden und Glück fände. Das fand er so unglaubwürdig, dass er erstmal eine Weile stehen blieb und eine Wanderpause einlegte. Er hatte zwar schon in einigen seltsamen Bücher von solchen Spalten im Boden gelesen, die ähnliches versprachen, aber solche Geschichten bisher immer für Märchen gehalten.
Als er sich das Schild genauer anschaute, entdeckte er noch das Kleingedruckte. Dort stand unter anderem, dass das Hinüberspringen kostenlos wäre und dass bisher noch niemand von der anderen Seite der Spalte freiwillig wieder zurückgekommen wäre. Und es wurde dringend empfohlen, fast sein gesamtes Gepäck auf dieser Seite der Spalte zurücklassen. Man würde sich sonst beim Springen nur einem unnötig hohen Risiko aussetzen und man bräuchte das alles auf der anderen Seite nicht.
Das verstärkte natürlich das Misstrauen des Mannes. Das kann irgendwie nicht sein, da erlaubt sich jemand einen Scherz oder will mich reinlegen, dachte er. Also setzte er sich erstmal, schlug nach einiger Zeit sein Lager auf und begann nachzudenken.

Wie lange er da saß, wieviele Tage, Wochen und schließlich Monate er auf dieser Seite der Spalte verbrachte und nachdachte, ist für unsere Geschichte nicht von Bedeutung. Aber es sei erwähnt, dass während dieser Zeit immer wieder andere Wanderer vorbei kamen und auch erstmal stutzten. Sehr wenige übersprangen die Spalte und tatsächlich kam von diesen Mutigen nie einer zurück. Man sah sie nur fröhlich von der anderen Seite winken, von wo sie dann ihre Wanderung fortsetzten.
Die meisten Wanderer zögerten wie er, einfach über die Spalte zu springen. Viele von ihnen legten auch erstmal eine Rast ein und schlossen sich dem wartenden Wanderer an. Die Mehrzahl von ihnen hatte auch deshalb nicht springen wollen, weil sie unbedingt ihr Gepäck mitnehmen wollten, an das sie sich im Lauf ihrer Wanderung so gewöhnt hatten. Aber das Schild warnte ja eindrücklich davor, dass dann der Sprung misslingen könnte.
Die überwiegende Zahl derjenigen, die vorbeikamen, verspottete jedoch den Wanderer und die kleine Gruppe, die sich gebildet hatte, und kehrte kopfschüttelnd sofort wieder um.

 

Allmählich entstand aus den Wartenden eine kleine Gemeinschaft. Sie verbrachten viele schöne Abende am Lagerfeuer miteinander, philosophierten über den Sinn des Lebens und sinnierten über die mögliche tiefere Bedeutung dieser seltsamen Spalte im Boden.
Ihre Gespräche drehten sich zum Beispiel um die Frage, wie man herausfinden könnte, ob das Schild die Wahrheit sagte. Es einfach auszuprobieren, war ihnen allen auf jeden Fall nicht geheuer. Einige wenige gaben zwar zu, dass sie einfach Angst hatten, aber gleichzeitig gaben sie eine Vielzahl von vernünftigen Gründen an, weshalb es besser sei, nicht zu springen. Die wollen wir hier gar nicht alle aufzählen.
Sie stellten Überlegungen an darüber, wer wohl ein solches Schild aufgestellt haben könnte. Er müsse ja damit irgendeinen Zweck verfolgen. Sie hatten verschiedene Vermutungen, die alle nichts Gutes verhießen, was sie in ihrem Entschluss bestärkte, lieber noch ein bisschen nachzudenken.
Was viele von ihnen auch davon abhielt, die Spalte zu überqueren, war, dass noch keiner von ihnen jemals in den Zeitungen oder Nachrichten von so etwas gehört hatte. Wenn das stimmte, was auf dem Schild stand, da waren sie einhellig einer Meinung, dann wäre das allgemein bekannt und mehr oder weniger alle Menschen würden hierher pilgern und rüberspringen. Also könne das nicht stimmen. Da war was faul an der Sache.
Die Wartenden fanden also gute Gründe, lieber noch zu warten. Zu viele Fragen mussten erst noch erörtert und geklärt werden, bevor sie bereit waren, sich auf so etwas einzulassen. So vergingen die Tage.

Es kam praktisch nicht vor, dass jemand, der nicht am ersten Tag oder bald danach gesprungen war, später noch ernsthaft in Erwägung zog, die Spalte zu überqueren. Je länger jemand zögerte, um so mehr fühlte er sich auch mit der Gruppe der anderen Zögernden verbunden. Es entstanden tiefe Freundschaften unter ihnen und man bestärkte sich gegenseitig darin, lieber noch ein bisschen nachzudenken, bevor man so einen entscheidenden Schritt wagen würde.
Immer wieder versammelten sie sich am Rand der Spalte, manchmal schweigend, manchmal heftig darüber diskutierend, wie man am besten damit umgehen sollte und was das alles bedeutete.
Manchen schien es, als würde der Spalt im Boden immer breiter werden, je länger sie warteten. Ob das zutraf, wissen wir nicht, und das hätte ja eigentlich den einen oder anderen dazu bewegen können, ihn möglichst bald zu überqueren. Aber in unserem Wanderer jedenfalls hatten sich im Lauf der Zeit so viele Bedenken angesammelt, dass es ihm immer schwerer fiel, einen Sprung auch nur ins Auge zu fassen. Außerdem ließ auch mit zunehmendem Alter die Kraft seines Körpers nach und er dachte gelegentlich wehmütig an die Sprungkraft, über die er früher noch verfügt hatte.

Mit der Zeit wurde sich unser Wanderer manchmal einer schwermütigen Grundstimmung bewusst, die er von früher kannte. Da drüben soll man angeblich glücklich sein und ich sitze auf dieser Seite der Spalte, dachte er traurig. Aber wie schon immer in seinem Leben gelang es ihm meistens, dieses Gefühl wegzuschieben und sich durch die angenehme Gesellschaft der anderen abzulenken, sodass er dieses Gefühl irgendwann gar nicht mehr wahrnahm.

Wie lange der Wanderer und seine Freunde da warteten und überlegten, ist für uns wieder nicht von Bedeutung. Aber man kann sich denken, dass diese Geschichte endet wie viele schöne Geschichten:

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten sie noch heute.

 

 

 

 

 

 

 

 

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