z-Viparita karani

Viparita karani

von Ernst Adams

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Entspannen. Das hört sich an wie „nichts tun“. Man legt sich hin und schließt die Augen. Und dann kommt die Entspannung.

Kleine Kinder können unter fast allen, auch ungünstigen Umständen schlafen. Sie nehmen sich ihre Ruhe, wenn sie sie brauchen. Als Erwachsenen ist uns dies nicht möglich. Nicht nur, dass wir zeitlich eingebunden sind und diesbezüglich weniger Freiheit haben. Wir haben Tätigkeiten auszuführen, wir sind unseren Mitmenschen verpflichtet, wir wollen etwas erreichen. Aber auch, wenn wir Pause haben, Feierabend oder Ferien, fällt es uns schwer zu entspannen. Das Leben in unserer Gesellschaft erfordert, dass wir uns die meiste Zeit des Tages zusammennehmen, und wir können das nicht einfach seinlassen, wenn wir nichts zu tun haben.

Unser Körper signalisiert uns Wünsche, denen wir oft nicht unmittelbar nachgeben können. Wegrennen, jemanden umarmen, kämpfen, schlafen, essen. Wir müssen unsere instinkthaften Regungen aggressiver Art oder das Verlangen nach Lustbefriedigung zügeln. Die Vernunft und der Wille sind Instanzen in uns, die vermitteln zwischen dem, was von innen triebhaft erfüllt werden will und dem, was nach außen möglich und der höheren Einsicht nach sinnvoll ist.

Diese inneren Impulse haben auch körperliche Begleiterscheinungen. Hormone werden ausgeschüttet, der Puls wird schneller, die Muskeln werden in Bereitschaftszustand versetzt, eine Vielzahl vegetativer Veränderungen tritt ein. Wird das Verlangen nicht erfüllt, bleibt unter Umständen dieser dann nicht angemessene körperliche Zustand erhalten. Wir sind im Stress.

Dazu kommt noch der emotionale Aspekt der eventuell nicht ausgedrückten Trauer über entgangene Freude oder der Wut, welche sich nicht entladen konnte. Das bedrückt und beschäftigt uns eine Weile, allmählich kommt das Kreisen um diese Angelegenheit zur Ruhe, und wir können uns wieder den anstehenden Dingen zuwenden. Irgendwann ist es dem Alltagsbewusstsein entzogen. Schwerwiegende Enttäuschungen tauchen dann vielleicht im Schlaf oder im Rahmen einer Psychotherapie wieder auf.

Auch körperlich findet mit der Zeit eine weitgehende Normalisierung statt, aber eine Erinnerung bleibt. Beim Denken an vergangene angstvolle Erlebnisse zum Beispiel reagiert der Körper teilweise so, als ob es jetzt Wirklichkeit wäre. Er erstarrt vor Angst und aktiviert gleichzeitig Energie zum Kämpfen oder Weglaufen. Die körperliche Erinnerung zeigt sich im Verhaltensmuster, das früher sinnvoll war, aber jetzt unangemessen ist. Sie findet sich im Stress, ausgelöst durch Hormone, deren Ausschüttung zu schnell geschieht, und in Verspannungen, die sich nicht aufgelöst haben.

 

Wir brauchen also Entspannung. Da wir uns oft nicht dann entspannen können, wenn es gerade nötig wäre, müssen wir uns Zeit nehmen und reservieren für Erholung und Regeneration. Außerdem müssen es die meisten Menschen erst wieder lernen, sich zu entspannen. Die Teilnahme an einem Yogakurs oder das eigene Üben dienen beidem. Wenn die Energie nicht ausreicht, um aktive Asanas achtsam zu üben, bieten sich die passiven Haltungen an. Sie sind von unschätzbarem Wert bei Erschöpfungszuständen und zur Heilungs­unterstützung bei organischen Beschwerden. Viparita karani nimmt eine besondere Stellung ein, da es die Vorzüge einer Umkehrhaltung bietet, verbunden mit der Öffnung des Brustkorbes. Seine Bedeutung lässt sich daraus ermessen, dass es in vielen von B. K. S. Iyengar entwickelten therapeutischen Reihen vorkommt. Dies ist auch seinem neuen Buch „Yoga – The Path To Holistic Health“ zu entnehmen, das Ende des Jahres auf deutsch erscheinen wird.

 

Yoga ist allerdings ursprünglich keine Entspannungsmethode. Es ist ein Weg, auf dem der Mensch zurückfinden kann zur bewussten Einheit mit allen und allem und sein Gefühl der Abgetrenntheit als selbst-gemacht erkennen kann. Wer in diesem Sinne mit Leib und Seele erleuchtet ist, wird natürlich auch keinen Anlass mehr für irgendwelche Verspannungen haben. Die Übungen des Hatha-Yoga wurden jedoch eher entwickelt, um den Körper zu kräftigen, damit er zu einem guten Vehikel für diesen geistigen Weg wird, und Energien dafür freizusetzen.

Wir sind in das heutige Leben eingebunden und leben in der Regel nicht hundertprozentig dem spirituellen Weg verpflichtet. Vielmehr üben wir Asanas oder entspannen uns passiv mit Yoga oft, um besser leben zu können. Aber dieses „egoistische“ Kümmern um das eigene Wohlbefinden führt unweigerlich über sich selbst hinaus. Der achtsame und gefühlvolle Umgang mit dem eigenen Körper beim Yogaüben setzt auch einen geistigen Prozess in Gang und führt auf den Weg des Einswerdens.

 

Erholung im Yoga

Die klassische Entspannungshaltung ist Savasana, wörtlich „Leichenhaltung“. Du liegst gerade auf dem Rücken mit geschlossenen Augen. Das Tun besteht hier im Nicht-Tun, im Loslassen. Die Aufmerksamkeit ist wie in den aktiven Asanas dem Körper zugewendet. Du spürst noch verbliebene Anspannungen in den Muskeln und der Haut auf und löst sie.

In der Regel wird empfohlen, Savasana nach jeder Übungsrunde am Ende zu machen. Iyengar rät davon ab, es zwischen den aktiven Asanas auszuführen. Nach einer eventuell anstrengenden Yogastunde dient Savasana natürlich auch einfach der Erholung. Die Muskeln, der Atem, Kreislauf und Nerven kommen zur Ruhe. Es findet jedoch außerdem auf einer körperlichen Ebene eine Integration dessen statt, was gerade erfahren und gelernt wurde. Auch aus diesem Grunde ist diese anschließende Ruhephase sinnvoll, weil der Körper Zeit und Gelegenheit braucht, die neuen Bewegungen, Dehnungen und das gerade geübte Koordinieren der Glieder und Muskeln aufzunehmen und zu verarbeiten.

 

Jede Entspannungshaltung ist eine Herausforderung. Die körperliche Ruhe fördert zwar die mentale Stille, aber sie führt nicht notwendigerweise dazu. Es kann eine Qual sein, zehn Minuten stillzuhalten und dadurch der inneren Unruhe gewahr zu werden. Nicht zuletzt deswegen bezeichnet Iyengar in „Licht auf Yoga“ Savasana als eines der am schwierigsten zu meisternden Asanas.

Im Unterricht als Teilnehmer/in ist man froh über diese Gelegenheit, sich unter Anleitung zu entspannen. Der/die Lehrer/in hilft, die Aufmerksamkeit beim Fühlen und Wahrnehmen des gegenwärtigen Zustands zu behalten und nicht ins Denken und Fantasieren zu kommen. Wenn man alleine übt, ist man in Savasana oder anderen passiven Haltungen dem inneren, oft nicht endenden Gedankenfluss ausgesetzt. Mancher drückt sich vor der Auseinandersetzung mit diesem inneren Chaos und übt nur die aktiven Asanas. Aber so wie man im Körperlichen üben kann, eine bestimmte Form auszuführen und dabei in angemessener Weise aktiv zu sein, so kann man auch den Umgang mit dem Denken üben.

Ein wichtiger Schritt besteht darin, sich bewusst zu werden, dass wir nicht identisch sind mit dem Denken und dass wir den Gedanken nicht hilflos ausgeliefert sind. Es ist nicht hilfreich, sie stoppen zu wollen. Ein Gedanke, den man bekämpft, bindet die Aufmerksamkeit noch fester an sich. Zur Ruhe kommt man dadurch auf keinen Fall. Es gibt aber die Möglichkeit, den Gedanken die Aufmerksamkeit zu entziehen. Dazu muss man erst mal akzeptieren, dass das Denken vielleicht immer da sein wird. Genauso wie viele andere innere körperliche Aktivitäten eben immer, auch im Zustand der Ruhe, ablaufen. So wie wir jedoch im Normalfall Herr über unsere Bewegungen, unsere Sprache usw. sind, so gibt es in uns auch eine höhere Instanz als das Denken. Auf dieser Instanz können wir entscheiden, wohin wir unsere Aufmerksamkeit wenden. Wir haben sozusagen einen Schalter, mit welchem wir bestimmen können, auf was die Aufmerksamkeit gerichtet ist. In Savasana oder einer anderen Entspannungshaltung gibt es für mich die zwei Möglichkeiten Denken oder Fühlen. Beides gleichzeitig ist bewusst kaum möglich. Achtsam Entspannung üben heißt, immer wieder ins Fühlen zu gehen. Da die Anziehungskraft der Gedanken, der mentalen Vorgänge sehr groß ist, bedarf es wirklich des Übens, die Aufmerksamkeit vom Denken weg und dem Fühlen oder Wahrnehmen eines Sinneseindruckes ganz zuzuwenden.

 

Übungsanleitung

Es tut gut, mit den Beinen an einer Wand hoch, auf dem Rücken zu liegen. Besonders wenn man viel Zeit im Stehen verbracht hat, verlangt der Körper danach, und man spürt, wie das Blut aus den Beinen zum Körper zurückfließt. Auch bei Krampfadern oder übermäßiger Ansammlung von Lymphe (Zwischengewebsflüssigkeit) in den Beinen ist es wohltuend, und es entlastet das Herz.

Viparita karani ist gewissermaßen eine verbesserte Version dieser Haltung. Der wesentliche Unterschied besteht in der erhöhten Lagerung des Beckens. Bauch und Brustkorb werden dadurch offener, und man hat kaum Druckgefühle im Kopf, Hals oder Oberkörper, die beim einfachen Hochlegen der Beine auftreten können.

 

Die Unterlage unter dem Becken sollte nicht zu weich sein. Drei bis fünf gefaltete feste Decken eignen sich gut dafür. Die optimale Höhe hängt von deinem aktuellen Zustand (Blutdruck, Kreislauf) und deiner Gelenkigkeit ab. Im allgemeinen ist mehr Höhe sinnvoll und angenehmer, wenn der untere Rücken und die Hüftgelenke gut beweglich sind und die Muskeln an den Beinrückseiten gut dehnbar.

  • Achte darauf, dass die Beine senkrecht sind, d. h. liege mit dem Gesäß ganz an der Wand.

Das macht unter Umständen etwas Mühe. Es hilft, eine rutschfeste Matte unterzulegen, um sich im Liegen an die Wand heranarbeiten zu können. Ich begebe mich am liebsten in Viparita karani mit einer langsam ausgeführten Rolle vorwärts (Purzelbaum). Das ist nicht jedermanns Sache, aber wenn man es kann und den Kopf an der richtigen Stelle aufsetzt, landet man in der gewünschten Position, und es ist kaum noch Korrektur erforderlich.

  • Arrangiere die Decken so, dass dein Bauchbereich sich waagrecht anfühlt. Die unteren vorderen Rippen und die Hüftknochen sind dann ungefähr auf gleicher Höhe.

Der Oberkörper sollte sich nicht wie auf einer schiefen Ebene liegend anfühlen, die zum Kopf hin abfällt. Die Decken sollten eher ein leichtes Gefälle zur Wand hin haben. Lasse etwa eine Handbreit Raum zwischen Decken und Wand. In diesen Raum lasse das Gesäß sinken. Gelegentlich spanne die Muskeln an der Vorderseite der Oberschenkel an, ziehe diese nach unten, drücke dadurch das Becken fester auf die Unterlage auf, und öffne den Brustkorb aktiv. Dann werde wieder passiv.

  • Falls du dich im Hals oder Nacken nicht wohlfühlst, versuche es mit einer etwa fünf Zentimeter dicken Decke unter den Schultern. Öffne den Brustkorb, bringe die Schultern am Boden etwas näher zusammen, und ziehe die Schulterblätter näher zur Hüfte.
  • Lege deine Arme neben den Körper auf den Boden, Handflächen nach oben. Du kannst auch die Arme angewinkelt neben den Kopf legen, die Unterarme von der Wand weggerichtet. Oder lege beide Hände auf den Bauch. Strecke nicht die Arme über dem Kopf am Boden aus.

Bleibe bis zu zehn Minuten in Viparita karani, und liege danach noch einige Zeit in Savasana.

 

Stille

Viparita karani hat eine physiologische Wirkung, die man gleich spüren kann. Ein Lehrer beschrieb den Effekt einmal mit dem Bild eines in uns stattfindenden Autorennens. Es sei, als hörte der Lärm sofort auf, sämtliche Rennwagen kämen gleichzeitig zur Ruhe und allmählich zum Stillstand. Das ist fast jedesmal wieder meine Erfahrung in dieser Haltung.

Wie schwer es ist, sich zu entspannen, wird uns erst bewusst, wenn wir unsere Tätigkeiten ruhen lassen, wenn wir uns mit nichts beschäftigen. Dann spüren wir erst das ganze Ausmaß der inneren Unruhe, Rastlosigkeit und Unzufriedenheit. Die innere Anspannung ist ein Preis, den wir für unseren Lebensstandard zahlen. Zum Glücklichsein gehört jedoch mehr als Wohlstand, Komfort und Freiheit. Es braucht Gesundheit, erfüllte liebevolle Beziehungen und vor allem inneren Frieden. Yoga fördert diese Fähigkeit, mit sich selber still zu sein.

 


 

Anmerkungen

–  Eine mögliche Übersetzung des Sanskrit-Namens ist „umgekehrte Haltung oder Tätigkeit“. B. K. S. Iyengar erwähnt auch die Bedeutung „umgekehrter See“.

–  Die Betonung bei der Aussprache liegt auf dem zweiten „i“ in „viparita“ und auf dem ersten „a“ in „karani“.

–  Frauen sollten diese Haltung nicht während der Periode einnehmen. Außerdem wirkt sie eventuell ungünstig bei Schilddrüsenüberfunktion und bei Augen-, Ohren- oder Herzproblemen.

 


 

Dieser Artikel erschien in „YOGA aktuell“ Nr. 9, August/September 2001.