Die Lenkung des Gewahrseins
von Ernst Adams
Die Gedanken sind frei, sagt man. Aber bin ich es auch? Denke ich, was ich will?
Oder folge ich unwillkürlich dem, was in mir an Gedanken auftaucht?
Meditation ist ein Zustand stiller Präsenz.
Voraussetzung dafür ist Selbsterkenntnis, die Erforschung der Gefühle.
Dazu wiederum muss das Denken zur Ruhe kommen. Wie geht das?
Wenn die Frage gestellt wird, was Yoga eigentlich ist oder worum es dabei geht, wird meistens Patanjalis Yoga-Sutra I, 2 zitiert: „yogah citta vritti nirodhah„. Es kann übersetzt werden mit „Yoga ist das Beenden der Bewegungen im Bewusstsein.“ Dahin soll uns der achtstufige Pfad führen. In einen Zustand des Seins, dessen Ruhe nicht gestört ist von geistigen Vorgängen.
Im Iyengar-Yoga nehmen die Asanas (körperliche Übungen) und Pranayama (Atemübungen) dabei eine herausragende Stellung ein. Das Üben bereitet die Grundlage dafür, dass der Geist zur Ruhe kommt. Gelegentlich erlebt der Übende dabei ein Stillstehen voller Präsenz, eine Erfahrung, die mit Worten schwer beschreibbar ist. Patanjali sagt dazu in Yoga-Sutra I, 3: „tadâ drashtuh svarûpe ‘vasthânam„, übersetzbar als „Dann ruht der Mensch in seinem eigentlichen Wesen.“
Die meiste Zeit jedoch ist der Geist beschäftigt, in Bewegung. Meist empfinden wir es noch nicht einmal als Belästigung, dass in uns dauernd etwas los ist. Wir haben uns an das innere Reden gewöhnt und finden es normal. Erst wenn wir uns genauer mit uns selbst zu beschäftigen beginnen, uns auf den Weg der Selbsterkenntnis begeben, unser Bewusstsein erforschen wollen, fällt es uns als störend auf, dass in uns selten Ruhe ist.
Wieso haben wir eigentlich den Eindruck, dass in unserem Bewusstsein Bewegung ist, keine Ruhe? Könnten wir das nicht einfach beobachten und selber dabei still sein? So wie wir auch das Gewimmel in einem Ameisenhaufen ganz ruhig beobachten können.
Wenn wir schauen, was in uns vorgeht, finden wir hauptsächlich das Denken. Ein nahezu ununterbrochener innerer Dialog findet statt. Ein Gespräch mit uns selber, und wir können es nicht abstellen. Innere Bilder wechseln sich ab, Erinnerungen oder Erlebnisse werden hervorgeholt, alles gegenwärtig Erlebte wird beurteilt, besprochen, einsortiert. Und die Zukunft wird ausgemalt, aus dem Bekannten ein Plan gemacht, was als nächstes geschehen kann oder soll.
Gelegentlich jedoch nimmt uns eine Sinneswahrnehmung gefangen, ein Gefühl, ein Geräusch, ein Anblick, eine Körperempfindung, und wir werden einen Moment lang still. Wir verschmelzen darin. Aber dies dauert nur einen kurzen Augenblick, dann greift das Denken das Wahrgenommene auf und beschäftigt sich damit.
Fast ausschließlich Denken und dazwischen reines direktes Wahrnehmen sind die Vorgänge, die im Vordergrund unseres Bewusstseins stehen. Sie erscheinen uns als mit sehr unterschiedlichen Qualitäten versehen, das eine aktiv, schnell, das andere eher passiv und zeitlos. Als ganz verschiedene Zustände empfinden wir sie. Aber liegt dem Denken und dem Wahrnehmen nicht ein Phänomen, eine Fähigkeit zugrunde, die beides überhaupt erst als Bewusstseinserscheinung möglich macht und die wir entdecken können?
Kann man hören, ohne zu denken?
Mal ist das Fühlen im Vordergrund, mal sind es Gedanken. Was geschieht beim Wechsel vom einen zum anderen Zustand? Betrachten wir, was in uns abläuft, wenn wir wahrnehmen und kurz darauf das Denken sich einschaltet am Beispiel des Hörens.
Hören ist das Wahrnehmen von Schallwellen. Das sind Luftdruckschwankungen, die von einer Bewegung (z.B. einer schwingenden Violinsaite) ausgelöst werden. Es kommt also kein Geräusch auf unser Ohr zu, sondern eine Folge schneller Veränderungen des Luftzustandes. Unser Ohr ist das Instrument, welches in der Lage ist, dies zu registrieren und in nervliche Impulse zu übersetzen. Diese werden dann von einem Bereich unseres Gehirns empfangen, nennen wir ihn „Hörzentrum“, und es entsteht das „Geräusch“. In einer nicht näher fassbaren Weise können wir das Geräusch empfinden. Um es genauer zu benennen, reservieren wir dafür die Bezeichnung „Lauschen“. Es ist ein Hören, das noch nicht erkennt, vergleicht, einordnet. So wie ein Kleinkind Geräusche einfach wahrnimmt, aber aufgrund mangelnder Erfahrung nicht verstehen bzw. einsortieren kann. Erst in einem zweiten Schritt, welcher unter Zuhilfenahme des Denkens, des Gedächtnisses, also Teilen des Großhirns geschieht, wird das Geräusch mit bereits bekannten Geräuschen verglichen und gegebenenfalls erkannt: Ah, eine Violine!
Dieser zweite Schritt, das Erkennen, geschieht so schnell, so unwillkürlich, dass wir sofort wissen, was das Gehörte für ein Geräusch ist. Ein Erbteil der Evolution. In der Entwicklung der Lebewesen war es für das Überleben in einer potentiell gefährlichen Umwelt extrem wichtig, Geräusche sofort zu erkennen. So konnten sie beurteilt werden und eventuell geeignete Maßnahmen getroffen werden, eine Beute zu erwischen oder sich vor einer Bedrohung zu schützen. Für das Überleben war vor allem das Hören, also das erkennende Wahrnehmen wichtig, nicht das Lauschen.
Man könnte es so sehen, dass beim Lauschen unser Gewahrsein auf das Hörzentrum gerichtet ist, beim (verstehenden) Hören ist es bei dem, was über das Gehörte bereits gespeichert ist. Dies sorgfältig zu unterscheiden, ist für unsere Untersuchung von Bedeutung.
Das automatisch ablaufende Erkennen eines Geräusches hat nämlich den Nachteil, dass unsere Wahrnehmung sich vom tatsächlich Gehörten blitzschnell auf das „Erkannte“ verschiebt. Im weiteren Verlauf hören wir gar nicht mehr so genau hin, sondern wissen schon, wie sich das anhört.
Wenn wir hören und sofort verstehen, was das ist, wird das direkt Wahrgenommene überlagert oder sogar ganz verdrängt zugunsten des „Bildes“, das wir schon in uns haben. Entsprechendes gilt auch für die anderen Wahrnehmungsarten, das Sehen, Fühlen usw. Wir schauen oft gar nicht mehr genau hin, sondern kennen das Gesicht schon und „sehen“ aber tatsächlich dann nur das, was wir aus der Vergangenheit kennen und nicht das gerade Sichtbare.
Was geschieht, wenn man übt, im direkten Wahrnehmen zu bleiben, also z. B. wirklich zu lauschen und die aufkommenden Gedanken nicht zu beachten? Mein Gewahrsein ist dann auf die noch nicht weiterverarbeitete Empfindung in meinem Hörzentrum gerichtet. Dies führt dazu, dass ich das gerade Hörbare mehr im Detail aufnehme. Ich nehme also das „Original“ genauer wahr, so weit eben mein Gehirn die Wirklichkeit widerspiegeln kann.
Widme ich mich dem Lauschen, werden dadurch auch meine anderen Sinne wach. Das akustische Registrieren wird ergänzt durch weitere Sinneseindrücke, das ganze Bild des Moments und seine Stimmung werden mit aufgenommen.
Das Lauschen versetzt mich in einen besonderen Zustand. Die Gedanken sind weniger oder nicht mehr da, und „ich“ bin sozusagen auch weniger da. Ich bin ein Erlebender, passiv, in gewissem Sinne eins mit dem, was ich erlebe.
Ich erfahre im unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmen einen Seinszustand, in welchem das Denken nicht im Vordergrund steht. Die Gedanken werden immer mehr nur als Hintergrunderscheinungen wahrgenommen. Und mit fortschreitendem Üben „stören“ sie nicht mehr, das übliche Beschäftigen mit den Gedanken und das automatische Weiterspinnen hören auf. Ein Gedanke ist dann wie ein vorbeifliegender Vogel oder ein Blätterrauschen. Kurz auftauchend und dann wieder spurlos verschwunden und vergessen.
Denke ich oder werde ich gedacht?
Wenn man diesen Abstand, diese Gleichgültigkeit gegenüber seinen eigenen Gedanken erlebt, stellt sich natürlich die Frage, was letztere eigentlich mit dem Wesen des Menschen zu tun haben. Was ist denn Denken überhaupt? Geschieht es nicht eigentlich unabhängig von uns und unserem Willen? Niemand denkt sich ja vor dem als nächstes auftauchenden Gedanken aus, dass er ihn denken wird.
Sind die ungewollt ständig auftauchenden Gedanken vielleicht einfach nur Erscheinungen, die mit der Arbeit des Großhirns zu tun haben? Es ist hauptsächlich ununterbrochen darum bemüht, die Wirklichkeit zu verstehen und zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist, wie beispielsweise ob wir in Sicherheit sind. So gesehen ist das Großhirn einfach ein Organ, das eine gewisse Aufgabe zu erfüllen hat. Und das Denken ist das Lautwerden seiner Arbeitsweise.
Es ist lernbar, zumindest eine Zeit lang mit der Aufmerksamkeit nicht beim Denken zu sein. Beispielsweise indem wir uns dem sinnlichen Wahrnehmen zuwenden. Wir könnten die Frage stellen, ob „zu denken“ nicht einfach heißt, das Gewahrsein dorthin zu lenken, wo das Gehirn denkt, ins Denkzentrum bzw. Großhirn.
Was nämlich an Gedanken erscheint, bestimme nicht ich und kann ich auch nicht vorhersagen. Es ist eher so, dass es in mir denkt. Insofern ist es sprachlich nicht korrekt zu sagen, „ich denke“, so als wäre es eine von mir ausgeübte Tätigkeit. Diese sprachliche Formulierung führt zu der irrigen Annahme, ich könne das Denken einfach beenden. Stattdessen ist es so, dass ich mein Denken erlebe, weil ich mich ihm zuwende.
Ich bin gar nicht der „Denker“ meiner Gedanken. Ich bin noch nicht einmal verantwortlich für den Inhalt meiner Gedanken. Nur dafür, dass ich mein Gewahrsein zum Denken lenke und dies eventuell den ganzen Tag, selbst wenn ich gar nicht denken will. Ich lasse es dadurch mein Bewusstsein „besetzen“ und gebe ihm auch noch Energie.
Und das sein zu lassen, kann ich lernen. Ich kann es auch in mir denken lassen und nicht zuhören. Es wird zu einem Hintergrundgeräusch, das ich irgendwann noch nicht einmal mehr „höre“.
Ich stelle mir vor, dass ein im spirituellen Sinne freier Mensch das Denken nur benutzt, wenn er es braucht. Er benutzt es, um eine gewisse Aufgabe zu erfüllen. Durch seine Hinwendung zum Denken erhält es Energie, die entsprechenden Gehirnprozesse laufen verstärkt ab in Form von Assoziationsbildung und Lösungssuche, und das Ergebnis verwertet er.
Der Schlüssel zur Freiheit liegt jedoch nicht im Bemühen, die Gedanken zu beenden. Das wäre so, als würde man gebannt in einen Fernsehapparat schauen, den man nicht abschalten kann, aber man möchte gleichzeitig, dass der Fernseher aufhört zu laufen. Die Lösung besteht dann darin, das Fernsehzimmer zu verlassen. Man befreit sich vom ungewollten Überschwemmtwerden mit Gedanken, indem man ihnen die Aufmerksamkeit entzieht.
Unser eigentliches Wesen liegt im Zustand des Wahrnehmens
Bleibt die Frage, wer bin „ich“ eigentlich? Solange mein Gewahrsein noch auf das Denken fixiert ist, bin ich mit dem Inhalt des Denkens identifiziert. Ich bin nicht frei, nicht wirklich „ich“, sondern an das gefesselt, was sich an konditionierten Abläufen in meinem Denken abspielt. Ich bin dann meine Vergangenheit, eine Kombination meiner schon früher gedachten Gedanken. So wie es in Yoga-Sutra I, 4 ausgedrückt ist: „vritti sârûpyam itaratra“ („Ansonsten glaubt sich der Mensch eins mit seinen wechselnden Bewusstseinsinhalten.“)
Das Quälende daran, dass man seine Gedanken nicht zur Ruhe bringen kann, ist: man weiß irgendwie, dass das nicht das eigentliche Wesen ist, das da redet und sich aufspielt. Aber solange die Aufmerksamkeit ans Denken gebunden wird, ist das eigentliche Wesen nicht zu entdecken.
Das Gewahrsein in das direkte sinnliche Wahrnehmen zu lenken, führt zur Lockerung dieser Bindung und schließlich zu ihrer Auflösung. Schließlich ist auch diese Lenkung nicht mehr erforderlich, weil eine neue Heimat im Gegenwärtigsein gefunden ist. Alles wird wahrgenommen: das Singen der Amsel, eine gerade auftauchende körperliche Empfindung, ein Gedanke, die Gesichter der Menschen um mich herum und die Gefühle, die in mir ausgelöst werden. Nichts stört. Nichts wird bevorzugt, nichts vermieden.
Die Freiheit des Menschen besteht im wahllosen Wahrnehmen dessen, was jetzt gerade ist. Das Gewahrsein ist nicht identifiziert mit seinem Inhalt und bleibt nicht haften an dem, was gerade geschehen ist. Es ist still.