Das unzufriedene Puzzleteilchen

Es war einmal ein Puzzleteilchen, schön passend eingefügt in ein riesengroßes Puzzle von ganz außergewöhnlicher Art. Das Puzzle sah nämlich nicht immer gleich aus. Es erschien einem manchmal großartig, wunderschön, harmonisch in seinen Mustern und Farben, und ein andermal sah man in dem Puzzle viel Durcheinander, ein ohne Sinn zusammengefügtes Machwerk. Vielleicht war es ja so, dass das Puzzle lebte und sich ständig veränderte, aber auf jeden Fall waren es auch die Stimmung und die innere Haltung des Anschauenden, die den einen oder den anderen Eindruck entstehen ließen.

Aber in dieser Geschichte soll es ja nur um das eine Puzzleteilchen gehen. Obwohl es ziemlich gut zu seinen Nachbarpuzzleteilchen passte, war es nämlich die meiste Zeit unzufrieden. Vor allem mit sich selber. Es fühlte sich irgendwie nicht ganz rund. Wie das bei Puzzleteilchen nun halt mal so ist, hatte es neben einigen runden Ausstülpungen und Einbuchtungen eben auch „Ecken und Kanten“. Und die letzteren hätte es gerne ein bisschen runder gehabt.
Es war der Ansicht, Ecken seien nicht gut. Sie sind nicht schön und außerdem eckt man damit nur an. Dann mögen einen die anderen nicht. Und schuld ist man selber, eben wegen der Ecken.
So gut es konnte, schaute das Puzzleteilchen manchmal nach den anderen Puzzleteilchen, wie die so waren. Und da gab es welche, die hatten noch viel mehr Ecken als es selber. Von denen zog es sich dann innerlich lieber etwas zurück und orientierte sich stattdessen an denen, die so aussahen, als hätten sie fast nur Rundungen. Es bewunderte sie und hätte gerne von denen etwas gelernt. Entweder, die waren so auf die Welt gekommen, oder sie mussten sicher sehr an sich gearbeitet haben. So will ich auch sein, sagte sich das Puzzleteilchen und suchte nach Wegen, an sich etwas zu verändern. So, wie ich bin, bin ich nicht schön genug. Ich will anders sein, sagte es. Es muss einen Weg geben, so zu werden, wie ich sein will. Oder wenigstens ein bisschen besser, ein bisschen runder, als ich jetzt bin.

Nun sind natürlich die Möglichkeiten eines Puzzleteilchens, sich zu verändern, äußerst begrenzt. Es konnte ja nicht aus sich heraustreten und dann mit irgendwelchen Werkzeugen, von denen es sowieso nichts wusste, an sich herumschnipseln. So blieben seine Bemühungen im wesentlichen auf grüblerisches Nachdenken beschränkt.
Wie man sich denken kann, führte dieses Grübeln zu nichts. Außer, dass das Puzzleteilchen sich im Lauf der Zeit immer unwohler fühlte in seiner Haut, nur noch selten gute Laune hatte und wenn es Psychotherapie für Puzzleteilchen gegeben hätte, hätte es schon längst einen guten Therapeuten aufgesucht.
Seine Unzufriedenheit mit sich selber führte dazu, dass es sich auch immer mehr an den Ecken und Kanten seiner Nachbarn störte, die dann wiederum an ihm rummeckerten. Sein Unglücklichsein nahm also leider im Lauf der Zeit immer mehr zu.

Eines Tages jedoch hatte das Puzzleteilchen eine Einsicht. Vielleicht hatte es was geraucht oder irgendwas genommen, das ist nicht überliefert. Jedenfalls brachte das, was es da „sah“, die große Wende für das Puzzleteilchen.
Irgendwie geschah es nämlich, dass ihm ein Blick auf das Ganze geschenkt wurde. Es wurde nicht wirklich von seinem Platz herausgehoben, es war eher so etwas wie eine Vision. Für eine kurze Zeit sah es mit seinen inneren Augen das ganze Puzzle mit seinen vielen einzelnen Teilchen.
Es konnte erkennen, dass da irgendwie eine große, wunderbare Ordnung herrschte und dass unter dem richtigen Blickwinkel das Puzzle von überwältigender Schönheit war.
Das reichte natürlich noch nicht, um das Puzzleteilchen von seinem Hadern mit sich selber zu erlösen. Aber es war für das Puzzleteilchen auch ganz offensichtlich – es konnte es „sehen“ -, dass die Schönheit des Ganzen davon abhing, dass wirklich jedes Teilchen an genau seinem zugehörigen Platz war und genau so war, wie es war. Es sah also etwas, was es aus seiner üblicherweise begrenzten Sicht nicht hatte erkennen können. Dass es nämlich, so wie jedes andere Teilchen, eine ganz wichtige Rolle spielte. Wäre auch nur ein einziges Puzzleteilchen nicht an seinem Platz oder hätte eine Form, die nicht passen würde, wäre die Schönheit des ganzen Puzzles zerstört oder zumindest sehr beeinträchtigt.

Dass es so eine wichtige Aufgabe hatte, ließ die Stimmung des Puzzleteilchens schon mal enorm ansteigen. Aber es erkannte noch mehr. Ihm wurde nämlich bewusst, dass es das einzige Teilchen auf der Welt war, das diese eine ihm zugewiesene Stelle so richtig perfekt ausfüllen konnte. Kein anderes Puzzleteilchen hätte so genau da rein gepasst.
Meine Güte! Nur ich kann diesen Platz einnehmen! Ich mit meinen Ecken und Kanten. Wenn ich die Ecken abrunde, passe ich gar nicht mehr da rein und das ganze Puzzle ist irgendwie verhunzt!
Es erkannte, wie außerordentlich wichtig es war, dass es genau so war, wie es war, mit allen Ecken und Kanten. Sein Selbstwertgefühl kletterte auf ungekannte Höhen.

Allmählich trat die Vision, die das Puzzleteilchen erfasst hatte, wieder in den Hintergrund, aber die Einsichten blieben ihm erhalten. Es fand sich wieder an seinem Platz, die selben Nachbarn wie vorher, nichts an seiner Form hatte sich geändert. Aber innerlich war eine Wandlung in Gang gekommen.
Es sah jetzt ein, wie absurd es gewesen war, sich selber nicht in Ordnung, nicht passend zu finden. Ich passe haargenau! Und es erkannte, wie absurd es gewesen war, sich mit anderen Puzzleteilchen zu vergleichen und so sein zu wollen wie diese. Das hätte ja die ganze Schönheit zerstört.

In der Folgezeit überkamen das Puzzleteilchen gelegentlich noch Stimmungsschwankungen, wo es in die alte Gewohnheit verfiel, mit sich selber nicht zufrieden zu sein. Aber es erinnerte sich dann an den „größeren Blick“, und das half ihm jedesmal, über seine ungeliebten Unzulänglichkeiten hinwegzusehen. Aber es war kein „Übersehen“, kein Weggucken. Es schaute auf seine Ecken und Kanten einfach mit anderen Augen. Es nahm sich selber genau so an, wie es war. Es hatte gesehen, dass es von einer höheren Warte aus gesehen genau richtig war und dass es sogar für die Schönheit des Ganzen außerordentlich wichtig war, dass es genau so war, wie es war, mit allen Ecken und Kanten.

Fortan nahm es stolz und gleichzeitig demütig seinen Platz ein in dem Puzzle im Bewusstsein, ein unersetzliches Teilchen des Ganzen zu sein, ohne das das Ganze nicht ganz wäre. Wir müssen es uns als ein glückliches Puzzleteilchen vorstellen.

Damit hatte die Geschichte eigentlich schon ein schönes Ende gefunden, aber es gibt noch einen Nachtrag zu berichten. Und zwar hörte man nach der kleinen „Erleuchtung“, die das Puzzleteilchen durchgemacht hatte, von verschiedenen glaubwürdigen Beobachtern, dass seine Ecken und Kanten danach im Lauf der Zeit immer mehr ein etwas runderes Aussehen annahmen. Niemand konnte sich das erklären, auch das Puzzleteilchen selbst konnte dazu nichts sagen. Und erstaunlicherweise änderte und rundete sich auch das Aussehen der Puzzleteilchen um es herum, sodass weiterhin alles genau zusammenpasste. Irgendwie kam einem das Puzzle als Ganzes jetzt sogar noch schöner vor.

Vielleicht war es ja ein Wunder.
Wer will schon behaupten, es gäbe nichts, das wir nicht verstehen können?


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