Das Ende der Schlange

Jeden Tag nahm sie ab. Mal mehr, mal weniger, aber stetig. Jeden Tag fehlte ein Stück. Das Ende rückte buchstäblich täglich näher.

Angefangen hatte alles mit einem Versehen. Die Schlange hatte es sich zum Sonnenbaden auf einer Wiese gemütlich gemacht, als sich auf einmal etwas vor ihrem Kopf bewegte. Das muss wohl eine Eidechse sein, das kommt mir ganz gelegen, dachte sie, schnappte zu und erwischte gerade noch ein gutes Stück Schwanz. Runtergeschluckt war es schnell, aber der leckere Bissen blieb ihr fast im Halse stecken, als sie bemerkte, dass ihr an ihrem eigenen Ende ein Stück fehlte. Mein Gott, wie peinlich, ich habe mir selbst den Schwanz abgebissen, sagte sie, die anderen werden sich über mich lustig machen. Vorsorglich hielt sie sich die nächsten Tage ein wenig versteckt.

Das zweite Mal war es dann Faulheit. Es war ein heißer Tag, der Magen knurrte ihr, weit und breit kein Kleingetier zu riechen. Bei dieser Hitze war der Schlange gar nicht nach einer anstrengenden Hetzjagd mit sowieso ungewissem Ausgang. Doch der Hunger war groß. Da kam sie auf die verhängnisvolle Idee. Ist ja noch genug da, dachte sie, und schwupp! hatte sie sich ein weiteres saftiges Stück ihres eigenen Schwanzes einverleibt. Das angenehme Gefühl, das sich nach einer guten Mahlzeit einzustellen pflegt, ließ sie die Schmerzen an ihrem Hinterteil schnell vergessen und ermöglichte der Schlange eine ausgedehnte Mittagsruhe.

Von da an ging´s bergab. „Das nimmt noch mal ein böses Ende“, meinten ihre Freundinnen.  Aber weder diese Warnungen noch ihr schlechtes Gewissen hielten die Schlange davon ab, zumindest in Notzeiten, aber immer öfter schon mal auch einfach aus Trägheit, sich an ihrem eigenen Ende gütlich zu tun, anstatt sich auf die Jagd zu begeben. Letzteres fiel ihr auch immer schwerer, da sie mit der Zeit sehr an Schnelligkeit und Wendigkeit verloren hatte.

Schließlich kam es soweit, dass sie bezüglich ihrer Nahrungsaufnahme wortwörtlich ganz auf sich selbst angewiesen war. Sie wurde rapide kürzer und kürzer. Und eines Tages, als sie hinter sich ein Geräusch wahrnahm und sich umdrehte, blickte sie entsetzt in ihr eigenes weit aufgerissenes Maul – und war weg.