z-Uttanasana

Uttanasana
(Stehende Vorwärtsbeuge)

von Ernst Adams

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Uttanasana kann sowohl eine Erholung als auch eine Qual sein. Einige Minuten sich hängen zu lassen oder sich sogar aktiv dabei noch nach unten zu strecken, bringt Ruhe in den Körper und den Kopf. Man fühlt sich danach meist leer und erfrischt. In „Licht auf Yoga“ schreibt B. K. S. Iyengar, dass zwei Minuten Uttanasana jede Depression vertreiben. Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo ich für dieses Rezept dankbar war und es sich jedesmal bewahrheitet hat. Wieso oder wie es funktioniert, weiß ich nicht. Steckt die Depression im Kopf und wirkt die verstärkte Durchblutung heilend? Steckt sie in den Rückseiten der Beine als Verkrampfung und wird durch die Dehnung beseitigt?

Im Unterricht wird Uttanasana oft zwischen den relativ anstrengenden stehenden Übungen eingefügt. Es hilft dann, Puls und Atem wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Besonders wenn Uttanasana intensiv geübt wird, ist es für Anfänger erst mal mit erheblichen unangenehmen Gefühlen an den Beinrückseiten verbunden. Wie bei fast allen Asanas kommt das Empfinden von Glück, Stimmigkeit und innerer Ruhe erst, wenn die Schmerzen entweder nicht mehr so intensiv sind oder man ihnen zumindest nicht mehr automatisch mit einer inneren Abwehrreaktion begegnet, sondern man damit innerlich still sein kann.

Unerfahrene sehen die Dehngefühle meist als unangenehme Begleiterscheinung der Yogaübungen an. Man möchte einen klaren Kopf, gute emotionale Verfassung, Energie. Es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum es deswegen hinten an den Beinen so ziehen muss. Dementsprechend haben Anfänger eine verständliche Neigung, diesen schmerzhaften Empfindungen auszuweichen, sie jedenfalls auf keinen Fall auch noch freiwillig zu verstärken. Im Unterricht wird der Yogalehrer zum Folterknecht, dem man sich in gewissen Grenzen unterwirft, weil es einem ja hinterher so gut geht.

Nach einigen Wochen oder Monaten des Übens ist dann das Schlimmste überwunden. Zum einen sind die wesentlichen Muskeln in einem mehr gedehnten Zustand als am Anfang, so dass die Asanas leichter ausgeführt werden können. Zum anderen ändert sich jedoch allmählich auch die innere Bewertung des Schmerzgefühls. Es ist nicht so, dass man immer besser die Zähne zusammenbeissen und mehr aushalten kann. Sondern das, was vorher als schwer zu ertragender Schmerz empfunden wurde, wird immer mehr zu einem Gefühl, das zwar nicht unbedingt angenehm ist, dessen Abwehr aber nicht mehr so notwendig ist.

 

Uttanasana hat eine einfache äußere Struktur. Das Becken wird möglichst weit nach vorne gekippt, die Beine bleiben gerade, der Oberkörper hängt oder wird nach unten gestreckt. In dieser Übung kann man sehr deutlich beobachten und messen, welchen Fortschritt man macht. Anfangs kommen viele Übende nicht mit den Fingerspitzen auf den Boden. Im Lauf der Monate und Jahre kann man verfolgen, wie zuerst die Finger dann die ganze Handfläche immer mehr auf den Boden kommt. Schließlich kann man die Hände sogar neben oder hinter den Füßen aufsetzen.

Behindert wird die Ausführung von Uttanasana besonders durch verkürzte Muskeln an der Rückseite der Oberschenkel. Aber auch verkrampfte Waden und nicht dehnbare Rückenmuskeln erschweren das Beugen. Wenn sich bestimmte Bereiche des Körpers als nicht nachgiebig erweisen, fragen Schüler oft, was sie denn dagegen tun könnten. Es gibt natürlich Techniken, Übungen, mit denen gezielt einzelne Muskelgruppen gedehnt werden können. Diese wende ich auch gelegentlich im Unterricht an. Aber in der Regel ist meine Empfehlung, einfach genau das Asana zu üben, bei dem sich das Problem offenbart. Achtsam, mit Entschlossenheit, regelmäßig, täglich. Ich halte es für sinnvoller, ein eventuell komplexes Asana als Ganzes zu üben, anstatt den Körper aufzugliedern in Muskeln und Gelenke und diese separat zu trainieren. Aber es mag im Einzelfall auch sinnvoll sein, sich besonders widerspenstigen Körperbereichen gezielt und etwas intensiver zu widmen.

 

Vorbereitung

Du solltest mit Tadasana (Bergstellung) vertraut sein. Die Arbeit der Füße und Beine ist in beiden Asanas fast die gleiche. In Tadasana lernst du, fest auf Fersen und Fußballen zu stehen. Und du gewöhnst dir an, die Knie gerade und die Kniescheiben über längere Zeit und auch unter unangenehmen Umständen hochgezogen zu halten.

Eine gute Möglichkeit mit der Bewegung des Beckens zu arbeiten, ist, an einer Wand oder einem Tisch „Halbes Uttanasana“ zu üben (Bild 2).

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Drücke gleichzeitig mit den Händen gegen die Wand und mit den Sitzknochen nach hinten.
Ziehe das Brustbein nach vorne. Halte den Kopf auf einer Höhe mit den Oberarmen.

  • Kippe das Becken nach vorne, d. h. nimm die Sitzknochen nach oben, und dehne die rückseitigen Oberschenkelmuskeln aufwärts.
    Fühle und überprüfe gelegentlich mit einer Hand die Haltung des Beckens und den Verlauf der Lendenwirbelsäule. Sei erst zufrieden, wenn du ein leichtes Hohlkreuz machen kannst. Wenn du im unteren Rücken sehr beweglich bist, musst du eher aufpassen, dass du die Lendenwirbelsäule nicht zu sehr nach innen ziehst. Entsprechend lasse die unteren vorderen Rippen nicht zu sehr hervortreten.
  • Drücke den inneren Bereich der Leisten nach hinten, ohne die Knie nach innen zu drehen.
  • Spüre den Zusammenhang zwischen dem kräftigen Hochziehen der Kniescheiben und dem Kippen des Beckens.

 

Üben

Meistens wird Uttanasana von Tadasana ausgehend geübt, mit den Füßen etwa hüftbreit auseinander und leicht einwärts gedreht.

Es gibt im wesentlichen zwei Möglichkeiten, beim Beugen des Oberkörpers mit den Armen umzugehen. Bei der einen streckst du in Tadasana die Arme nach oben und beugst dich dann beim Ausatmen mit gestreckten Armen in den Hüftgelenken nach vorne und nimmst dabei (oder etwas eher als den Oberkörper) die Arme nach unten. Beuge dich auf jeden Fall nicht zu langsam, weil das waagrechte Halten des Rumpfes eine große Belastung für die Bandscheiben ist.

Oder du verschränkst vor dem Beugen die nach oben gestreckten Arme und hältst mit jeder Hand den Ellbogen des anderen Arms. In beiden Fällen achte auf die Offenheit der Achselhöhlen – auch beim Beugen.

Beginne die Bewegung des Beugens nicht mit dem Kopf, sondern besser möglichst weit unten:

  • Drücke die Beine etwas nach hinten, dann kippe das Becken nach vorne zusammen mit dem Oberkörper und den Armen.
    Idealerweise behältst du die Form deines Oberkörpers weitgehend bei wie in Tadasana. Weder lasse den Rücken zu früh rund werden, noch gehe zu Beginn des Beugens in ein übertriebenes Hohlkreuz.
    Die korrekte Fuß- und Beinarbeit sind wie bei allen stehenden Übungen von ausschlaggebender Bedeutung sowohl in anatomischer und physiologischer Hinsicht als auch für das Gesamterleben der Übung.
  • Verteile dein Gewicht zu gleichen Teilen auf die Fersen und die Fußballen. Halte die Fußgewölbe angehoben und verkrampfe nicht die Zehen.

Uttanasana ist eine gute Gelegenheit, sich seine Füße und ihre Haltung einmal anzuschauen. Wenn das Fußgewölbe nicht deutlich sichtbar und fühlbar ist, drücke den äußeren Rand des Fußes etwas fester auf, ohne dabei einfach den Fuß nach außen zu kippen. Wenn der Bereich der Knöchel nach innen verrutscht ist, korrigiere das. Hebe den inneren Knöchel, drehe ganz leicht die Beine (Unterschenkel) nach außen, und drücke den äußeren Rand der Fersen fest auf den Boden.

Nimm die Struktur deiner Füße wichtig. Gib nicht auf in dem Bemühen zu lernen, die Fußgewölbe heben und die Zehen strecken und spreizen zu können. Deine Knie, Hüften und die Wirbelsäule werden es dir danken. Nicht zuletzt ist es auch psychisch ein erhebendes Gefühl, auf kraftvollen, lebendigen Füßen zu stehen, deren Mitte vom Boden hochgewölbt ist.

 

Das Hochziehen der Kniescheiben ist die wesentliche Aktivität in Uttanasana. Halte sie dabei genau geradeaus gerichtet.

  • Drücke die vorderen Oberschenkelmuskeln fest an den Oberschenkelknochen, und ziehe sie auf dem Knochen entlang nach oben. Spüre diese Arbeit auch am Ansatz der Beine, an den vorderen Leisten.
    Diese Anstrengung erhält ihren vollen Sinn erst, wenn du sie funktionell mit dem Kippen des Beckens nach vorne verbindest.
  • Bewege die Sitzknochen nach oben. Dabei lasse sie dem Gefühl nach etwas auseinander gehen.

Der Umgang mit den Leisten und dem unteren Bauch erfordert in dieser Übung eine besondere Aufmerksamkeit. In diesem Bereich findet ja die Beugung statt, und er tendiert daher dazu, eng und angespannt zu werden. Idealerweise fühlst du dich jedoch auch in Uttanasana dort frei und weich.

Stelle dir eine quer über die Leisten verlaufende fest gespannte Schnur oder Stange vor. In Uttanasana beugst du dich über diese Schnur, die ihre Höhe beibehält oder noch leicht angehoben wird. Auf der Beinseite der Schnur bewegst du dich immer mehr nach oben, auf der Bauchseite nach unten.

  • Halte den Bauch absolut weich.Wenn du korrekt arbeitest, hast du das Gefühl, der Bauch wölbt sich etwas nach innen. Die inneren Organe sinken in den weit geöffneten Brustkorb hinein, und es entsteht ein freier Raum von der Größe eines kleinen Kürbisses.Wenn der Oberkörper im Sitzen oder wie hier im Stehen nach vorne gebeugt wird, verkrampft sich bei manchen Menschen die Bauchmuskulatur oder das Zwerchfell. Da gilt es zu lernen, die Beugung deutlich von den Hüftgelenken her zu machen und nicht den Bauch einzuziehen.
  • Halte die Vorderseite des Oberkörpers ausgedehnt, während du dich nach unten beugst. Ziehe das Brustbein weg vom Bauch.Hebe gelegentlich den Kopf und die Arme ein wenig an. Das hilft, den Brustkorb wieder zu öffnen und sich zu strecken.
    Ein weiterer tendenziell problematischer Bereich sind die Schultern. Besonders wenn du zu früh oder um jeden Preis den Kopf an die Beine bringen willst, verkrampft sich leicht der hintere Bereich der Schultern und das Genick wird eingezogen.
  • Behalte den normalen Abstand zwischen den Schulterblättern bei.
    Auf der sicheren Seite bist du, wenn du die Schulterblätter auseinanderziehst und weg vom Kopf, Richtung Hüfte. Aber durch ein übertriebenes Zurückhalten der Schulterblätter verpasst du auch einen Aspekt von Uttanasana. In der fortgeschrittenen Version sind sie an den Rücken angedrückt und gehen zusammen mit dem Rücken nach unten Richtung Boden. Wichtig ist dabei immer, dass die Schulterblätter nicht zusammengezogen werden und damit gegen die Wirbelsäule oder den Nacken drücken.

 

Bleibe in Uttanasana eine halbe bis eine Minute. Wenn dein Interesse an dieser Übung zunimmt und du die Wirkung deutlicher erfahren möchtest, dehne diese Zeit aus bis auf fünf oder zehn Minuten. Mit Hilfe eines Stuhls kannst du auch auf eine mehr passive Weise üben. Die verschränkten Unterarme und der Kopf ruhen dabei auf der Sitzfläche (Bild 3).

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Behalte die Beine gerade, aber arbeite nicht so intensiv wie in der aktiven Version.
Schließe die Augen. Lehne dich nicht nach vorne auf den Stuhl,
sondern halte das Gewicht zum großen Teil auf den Füßen.

 

Wenn dein Rücken in Ordnung ist, übe das Aufrichten aus Uttanasana mit geradem Rücken. Nimm dabei die Arme näher zum Körper, hebe den Kopf etwas, dann öffne den Brustkorb und mit einer Streckung der Wirbelsäule komme mit dem Einatmen hoch. Es ist sehr entlastend für den Rücken, dabei die Gesäßmuskeln anzuspannen. Mache dir klar, in welcher Weise diese Aktivität hilft, den Oberkörper wieder aufzurichten.

Wie alle Vorwärtsbeugen ist auch Uttanasana bei Problemen mit dem Rücken und den Bandscheiben vorsichtig auszuführen. Beim Aufrichten ist es in diesem Fall eventuell besser, vorher die Knie zu beugen.

 

Vertieftes Üben

Beugt man sich aus Tadasana nach vorne, hemmen die Muskeln an den Beinrückseiten diese Bewegung. Aber gibt eine Möglichkeit, ihnen in Uttanasana noch etwas mehr Länge zu entlocken. Beuge dazu die Knie ein wenig, wie in Bild 4 gezeigt. Dies macht es möglich, das Becken noch weiter zu kippen. Dann strecke die Arme und den Oberkörper noch mehr schräg nach vorne unten. Deine Rippen kommen dann näher oder ganz an die Beine. Behalte diesen neuen kürzeren Abstand oder den Kontakt bei und strecke langsam die Beine wieder.

Die Dehnung an den Beinen ist nun wesentlich intensiver und der Rücken wesentlich mehr gestreckt.

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In dieser Haltung sind die rückseitigen Beinmuskeln weniger gespannt, und das Becken kann besser nach vorne gekippt werden.
Öffne die Achselhöhlen, ziehe den Brustkorb nach vorne, dann mache die Beine wieder gerade.

 

Im Gegensatz zu einem Anfänger, der froh ist, wenn die Anstrengung und die Schmerzen in einem erträglichen Rahmen bleiben, ist ein Fortgeschrittener sogar auf der Suche nach Dehngefühlen, nach Wegen die Übung zu vertiefen. In fast allen Asanas sind es die Arme und Beine, die die wesentliche Arbeit machen. Dort lohnt es sich, auf die Suche zu gehen nach Bereichen, die weder angespannt noch gedehnt sind, also wahrscheinlich nicht richtig an der Ausführung einer Übung beteiligt sind. Und in aller Regel führt deren sinnvolle Integration zu einem tieferen Erlebnis.

In Uttanasana entziehen sich leicht die Kniekehlen und die Waden der Integration.

  • Verbinde die Rückseite der Oberschenkel gefühlsmäßig mit den Waden. Dehne nicht nur die Oberschenkel nach oben, sondern beginne die Aufwärtsdehnung bereits beim oberen Teil der Waden.
    Diese Aktivität erhöht spürbar die Standfestigkeit in den Beinen und hilft auch, mit den Füßen fester auf dem Boden zu stehen.

 

Wer weit genug nach unten kommt, kann durch den Einsatz der Hände sowohl die Aufwärtsdehnung der Beine als auch die Streckung des Oberkörpers nach unten auf folgende Weise noch intensivieren (Bild 5).

  • Greife mit den Händen um die Fesseln (Finger hinten, Daumen vorne) und ziehe so, als wolltest du deine Füße vom Boden hochziehen.

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Ziehe die Beine nach oben und die Wirbelsäule nach unten.
Beuge die Ellbogen zur Seite. Verhärte dabei nicht den hinteren Schulterbereich.

 

 

Tun oder nichts tun

Bei fast allen Asanas ist es unsinnig und stört die innere Verfassung, das Gesicht oder den Hals anzuspannen oder den Bauch einzuziehen. Darauf gilt es immer und eben auch bei Uttanasana zu achten. Wer achtsam und forschend übt, findet immer mehr Bereiche, die aktiv zu einem Asana beitragen können und dies noch nicht tun. Gleichzeitig entdeckt man Anspannungen, Verkrampfungen, die unnötig sind. Diese loszulassen ist wunderbar wohltuend und erlösend. Sich das Loslassen nur vorzustellen reicht oft schon aus, und ein Körperbereich wird weich, ohne dass man verstünde, wie das geschehen ist. Du kannst dies in Uttanasana zum Beispiel am Kreuzbein erfahren.

  • Mache dein bestes Uttanasana. Dann bleibe aktiv und lasse die Haut am unteren Rücken um das Kreuzbein herum weich werden.
    Spüre, wie sich das auf deinen Rücken und dein gesamtes Empfinden auswirkt.

 

Wie in allen Asanas gibt es also auch in Uttanasana etwas zu tun und etwas zu lassen. Am Anfang des Übens macht man sich mit der Technik vertraut, der Haltung, dem korrekten Einsatz der Muskeln. Dabei setzen Anfänger oft zuviele Muskeln ein. Die Steuerung der Bewegungen und Kräfte im Gehirn ist ungeübt. Anstelle von drei Muskeln, die genügten, eine Haltung zu stabilisieren, werden zwanzig angespannt. Beim Hochziehen der Kniescheiben verspannt sich gleichzeitig das Gesicht. Beim Spreizen der Zehen machen die Finger auch mit.

Das Üben macht mit dem Körper vertraut, und man lernt, das Unnötige sein zu lassen. Die einzelnen Aktivitäten und Muskeln werden wieder besser sortiert. Im Gehirn liegt gewissermaßen eine Landkarte des Körpers vor, welche mit dem Üben immer genauer und detaillierter wird. Vorher einheitlich gezeichnete Bereiche werden differenzierter. Die weißen Flecken auf der Landkarte werden erforscht und bekannt.

 


Anmerkung

Der Sanskrit-Name dieser Übung setzt sich zusammen aus „ut“ (absichtlich, intensiv), „tan“ (Ausdehnung) und „asana“ (Haltung). Die Betonung liegt auf dem ersten „a“ in „asana“.

 


Dieser Artikel erschien in „YOGA aktuell“ Nr. 11, Dezember 2001/Januar 2002.