z-Die radikale Veränderung des Bewusstseins

 

Die radikale Veränderung des Bewusstseins

Die Essenz der Lehre Krishnamurtis


von Ernst Adams

 

Jiddu Krishnamurti wurde 1895 in Indien geboren. Durch seine ungewöhnliche Ausstrahlung fiel er als Vierzehnjähriger einem führenden Kopf der Theosophischen Gesellschaft auf. Diese ermöglichte ihm eine Ausbildung in England, und er wurde bald als der von ihr prophezeite Weltlehrer angesehen. Im Jahr 1929 löste Krishnamurti jedoch den für ihn gegründeten „Order of the Star in the East“ auf, weil er eingesehen hatte, dass keine Organisation den Weg zur Wahrheit vermitteln kann. Bis zu seinem Lebensende 1986 hielt er auf der ganzen Welt Vorträge, oft vor Tausenden von Menschen. Seine Aufgabe sah er darin, den Menschen zu zeigen, wie sie sich aus ihrer selbstgeschaffenen Unfreiheit befreien können. Einige der wichtigsten Aussagen Krishnamurtis sind:

 

Die Wahrheit ist ein pfadloses Land. Es gibt darin keine Wege
und Methoden, die zum Ziel führen.

Es gibt einen Zustand von Freiheit, der jenseits davon liegt,
tun zu können, was man will.

Durch Einsicht in die Struktur unseres Bewusstseins ist es möglich,
die Angst ein für alle Mal zu beenden.

Es führt in die Irre, sich in spirituellen Fragen einer Autorität zu unterwerfen.

Liebe ist die Essenz des Daseins. Sie hat nichts zu tun mit Gefühl oder Emotion.

Fast alle menschlichen Probleme sind darauf zurückzuführen,
dass wir dem Denken den Vorrang vor dem direkten Erleben geben.

 

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Alle Religionen, alle spirituellen Richtungen sprechen von etwas Besonderem. Von etwas Höherem, einer allem zugrunde liegenden Kraft oder einem ganz anderen Zustand. Sie deuten auf die Existenz eines göttlichen Wesens hin, auf ein Jenseits, ein Leben nach dem Tode oder auf die Möglichkeit der Erleuchtung, der Erlösung vom jetzigen Leiden.

Auch Krishnamurti hat auf dieses Heilige hingewiesen, einen tieferen Grund des Seins und die Möglichkeit eines freien und glücklichen Lebens in Beziehung mit Allem. Aber er war ein radikaler Lehrer. Er erkannte, dass es unmöglich ist, den Weg dahin zu beschreiben oder eine Methode anzugeben, die von unserem jetzigen Zustand in dieses ganz andere Sein führt. Er sah, dass die Ursache allen Leids darin liegt, dass wir konditioniert sind, die Welt über das Denken wahrzunehmen. Und jede Wegbeschreibung, jede Technik festigt nur immer weiter die Gefangenheit des Menschen im Denken.

Andere haben das besondere Sein Nirwana genannt, Samadhi, Satori, Erleuchtung, den Himmel, das Einssein. Krishnamurti hatte keinen Namen für das Unnennbare und gab keine Beschreibung davon. Er folgte der Ansicht, dass jede Bezeichnung ein Bild erzeugt, das dann zu einem scheinbaren, nämlich mentalen Erfassen des Bezeichneten führt, einer Vorstellung davon. Unser Denken über etwas ist jedoch prinzipiell auf das beschränkt, was es schon weiß und erfahren hat. Zum Erkennen eines grundsätzlich anderen Zustands ist es seiner Natur nach nicht in der Lage, so dass die Vorstellung eines ganz anderen Daseins sich notwendigerweise aus dem uns schon Bekannten zusammensetzt und damit in die Irre führt. Das ganz Andere kann nicht durch irgendeine Art von Suche gefunden werden; denn jede Suche kommt aus dem Denken, ihr liegt ein vom Denken geschaffenes Bild zugrunde, und wir suchen nach etwas damit Übereinstimmendem.

Nur die Verneinung alles schon Gewussten kann das auftauchen lassen, was jenseits dessen liegt, was wir wissen können. So war für Krishnamurti auch wirkliche Meditation die „Verweigerung“ gegenüber allem Gedachten, die Ablehnung der gesamten Denkstruktur und sowieso jeder Methode.

 

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Krishnamurti sprach davon, dass die Menschheit vor Jahrtausenden einen falschen Weg eingeschlagen habe. Als sich in der evolutionären Entwicklung die Fähigkeit des Denkens, Erinnerns und Verstehens ausgebildet hat, hatte der Mensch ein Instrument in der Hand, das ihm die Lösung vieler Probleme des Lebens und weitgehende Herrschaft über die Natur ermöglicht hat. Der „Fehler“, auf den Krishnamurti hinwies, ist, dass wir seitdem in zunehmendem Maße das Denken unsere Handlungen und Ansichten bestimmen lassen und damit auch seinem Wirken ausgeliefert sind. Die direkte sinnliche Wahrnehmung der Welt, das Mitgefühl und die Wahrheit, die aus ihr kommen, werden dem Verstand untergeordnet.

Das Denken hat eine eingeschränkte Definition von Freiheit, nämlich frei sein „von“ etwas und frei sein „für“ etwas. Damit wird Freiheit zu etwas Bedingtem, abhängig von dem, was ist und dem Erreichenkönnen dessen, was wir uns vorstellen können. Dass es ein Freisein ohne diese Abhängigkeit gibt, ist nicht denk-bar.

Auch das Denken selbst ist nur scheinbar frei. Wir glauben zwar, denken zu können, was wir wollen. Aber es ist nur das Denken, das das glaubt. Der Wille zu einem bestimmten Gedanken entsteht ja erst im Denken, und dann schließt das Denken aus der Fähigkeit, diesen Gedanken denken zu können, auf seine eigene Freiheit. Ein offensichtlicher Zirkelschluss, den jeder Computer auch ausführen kann.

Weitere Belege dafür, dass wir lediglich einer Illusion von Freisein und Selbstbestimmtheit erliegen, liefert die Hirnforschung. Es gibt Hinweise darauf, dass das Gehirn schon denkt oder eine Wahl trifft, bevor uns der Impuls zum Tun bewusst wird und es dann als von uns gewollt erscheint. Von Untersuchungen bei hirnverletzten Menschen weiß man, dass das Denken im Nachhinein auch für absurde Handlungen scheinbar vernünftige Erklärungen liefern kann. Unabhängig davon ist es sowieso keine Frage, dass wir in unseren Ansichten geprägt und beeinflusst sind durch unsere Erziehung und die Gesellschaft, in der wir aufwachsen.

Wir sind aber weder frei, wenn wir das nachmachen, was andere tun, noch wenn wir uns aus Protest für das Gegenteil entscheiden. Die wahre Freiheit und wirklicher Frieden liegen außerhalb der vom Denken geschaffenen Welt. Es weiß nichts von einem tieferen Fluss des Lebens jenseits allen Denkens, dem sich zu überlassen erst eigentliche Freiheit ist. Wer sich von diesem Fluss tragen lässt, trifft keine Entscheidungen mehr. Es gibt nichts zu entscheiden, es gibt keine Wahl zu treffen, weil es unmittelbar klar ist, was die richtige Handlung ist.

 

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Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Angst den freien Ausdruck der meisten Menschen behindert oder sogar ihr Verhalten regiert. Die Angst, nicht geliebt zu werden, vor Krankheit, dem Verlust nahestehender Menschen und dem Tod. Wir halten Angst für ein natürliches Gefühl, das in Momenten von Gefahr auftritt. Aber wir empfinden auch Angst, vor dem, was wir uns lediglich als bedrohlich vorstellen.

Selbst wenn der Gedanke an eine Bedrohung einer realistischen Betrachtung nicht standhält, überlegt das Denken in seinem Bemühen um Sicherheit, welche Maßnahmen es ergreifen könnte. Dann tauchen Gedanken auf, die die Wirksamkeit dieser Maßnahmen wiederum in Frage stellen, usw. So drehen wir uns um von Gedanken erzeugte Angst.

Die Unsinnigkeit dieser Beschäftigung zu erkennen, reicht jedoch nicht. Solange das Gewahrsein dem Denken zugewendet wird, erlebt man dessen unsinniges Tun. Der aus dem Denken kommenden Angst wiederum mit Denken zu begegnen, ist offensichtlich fruchtlos. Die Instanz, die die Angst überhaupt erst erzeugt, kann sie höchstens mildern, in den Hintergrund drängen. Aber sie kann nicht als Mittel taugen, sie zu beseitigen. Wer die Angst hinter sich lassen will, muss die Angst bestehen lassen, darf sie nicht weghaben wollen und nicht auf sie eingehen. Sehen, woher sie kommt, ohne zu denken, ohne zu erklären, ohne verstehen zu wollen. Das braucht die Fähigkeit, wirklich still sein zu können. Reaktionslos mit dem sein können, was gerade geschieht. Außerhalb von mir und in mir.

Damit gibt man seine alte „Heimat“ auf, das übliche Ich. Alles wird von einem Beobachter aus wahrgenommen, der kein Ich als Zentrum hat. Da ist nur Beobachtung.

 

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Genaue Selbsterkenntnis ist eine notwendige Voraussetzung dafür, sein eigentliches Wesen zu erkennen. Wer sich selbst auf den Grund kommen will, tut eventuell gut daran, die Hilfe von Lehrern in Anspruch zu nehmen, sei es in spiritueller Hinsicht oder in psychotherapeutischer. Wer sich jedoch zu lange oder für immer an einem Lehrer, einer Tradition oder Techniken festhält, wird nicht zu seinem inneren Kern kommen. Jede Autorität, jede von außen kommende und jede innere Überzeugung müssen sobald wie möglich beiseite gelegt werden, sonst kommt es lediglich zu einem Befolgen und Nachmachen.

Sei dir selbst ein Licht, sagte Krishnamurti. Nur du selbst kannst letztlich sehen, wer du bist. Dazu allerdings muss sich ein Mensch ganz genau kennen, um den Fallen seines eigenen Denkens zu entgehen. Beobachte wie du sprichst, welche Handbewegungen du machst, welche innere Stimmung in dir ist, wie sich der Körper anfühlt. Um dich selber zu erkennen, nimm vor allem wahr, wie du auf Andere reagierst. Deinen Ärger, dein Geschmeicheltsein, deine Enttäuschung. Nimm wahr, ohne zu analysieren oder zu rechtfertigen. Untersuche nicht deine Vergangenheit, sondern deine Gegenwart. Aus der gründlichen Beobachtung deiner selbst mit allen Sinnen kommt die Veränderung.

 

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Krishnamurti sah ganz klar, dass die menschliche „Liebe“ kaum etwas mit Liebe zu tun hat. Wir betrachten Verständnis, Sympathie, Mögen als Ausdruck von Liebe. Uns wird beigebracht, tolerant zu sein, und die Religionen predigen Mitgefühl, als könne dies hervorgerufen werden. Dass es nötig ist, uns zum Verständnis für den anderen Menschen aufzufordern, ist ein Beleg dafür, dass die Menschheit sich in der Abwesenheit von Liebe befindet.

Im „Tao Te King“ von Laotse steht sinngemäß, dass die Gesetze und die Moral dann kommen, wenn keine Liebe da ist. Deshalb gibt es für uns die Zehn Gebote, das Grundgesetz und das moralische Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Es sind vom Denken ergriffene Maßnahmen, um ein Desaster zu verhindern.

Das Denken hat die Nicht-Liebe erfunden, die Lüge, die Gewalt, die Gier. Ihm ist ein Dasein fremd, in dem es nur Wahrheit gibt, Liebe und Mitgefühl. Aber da wir dem Denken verpflichtet sind, erzogen und konditioniert durch eine dem Denken unterworfene Gesellschaft, setzen wir dieses Instrument ein, um das Schlimmste zu verhindern und erstellen Regeln. Die Liebe lässt sich aber nicht regeln oder herstellen. Wenn unser Bewusstsein sich nicht radikal ändert und sich dem Tieferen in uns ergibt, wird es nie wissen, was Liebe ist.

Krishnamurti hatte auch keine Definition von „Liebe“. Er empfahl die „negative Methode“, nämlich zu erkennen, was alles in unserem Denken und Verhalten nicht Liebe ist. Wir müssen sehen, dass Abhängigkeit, Besitzdenken und Eifersucht, die die meisten Beziehungen prägen, nicht Liebe sind. Das gegenseitige Gewähren von angenehmen Empfindungen und die Vermittlung des Gefühls von Geborgenheit haben nichts mit Liebe zu tun. Wer in Beziehung ist, um geliebt zu werden, um der Einsamkeit auszuweichen oder weil er das Alleinestehen nicht schafft, liebt nicht.

Zu sehen, dass alles, was wir tun, nicht Liebe ist, lässt eventuell den Verstand stillstehen. Erst wenn das Denken seinen eigenen Bankrott erlebt, kann etwas anderes zum Vorschein kommen, was schon immer da gewesen und vom Denken verdeckt worden ist.

 

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Aus dem bisher Gesagten wird Krishnamurtis Ansicht deutlich, dass unser Gehirn weder das geeignete Werkzeug ist, zu erkennen, was Lieben oder Freisein bedeutet, noch sich selber grundsätzlich vom Leiden befreien kann. Er sprach darüber hinausgehend davon, dass das Denken mechanisch und sogar der Hauptverursacher der menschlichen Probleme überhaupt sei. Wie hat er das gemeint?

Die Fähigkeit, Erlebtes zu speichern, zu analysieren und Elemente des Erfahrenen neu zusammenzusetzen, ist zweifellos eine großartige Entwicklung der Evolution und hat uns das heutige Leben mit seinen Annehmlichkeiten erst ermöglicht. Auch wenn uns Gedanken als etwas Geistiges erscheinen, nicht-materiell, sind sie letztlich jedoch nichts anderes als Produkte eines Organs in unserem Kopf. Sie dienen wie alle Organfunktionen in erster Linie unserem Überleben. Das Denken ist seiner biologischen Natur nach egoistisch und will vor allem, dass es mir gut geht, dass ich in Sicherheit bin. Es hat das Ich-Gefühl entstehen lassen, das Gefühl, ein Individuum zu sein, getrennt von den Anderen und der Welt. Erst aus der Fähigkeit, sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist, kann die Gier entstehen. Erst daraus entstehen das Streben nach Vergnügen und die Begierde, die mehr will als die Erfüllung der naturgegebenen körperlichen Bedürfnisse.

Wenn es nicht so läuft, wie das Ich es gerne hätte, entstehen die Emotionen, die Gefühle. Die tieferen Gefühle wie Trauer, Einsamkeit, sich ausgeschlossen fühlen usw. sind direkte Entsprechungen des Erlebten, sozusagen der körperliche Ausdruck davon. Diese nicht aushalten zu wollen, es anders haben zu wollen, lässt die Emotionen aufkommen. Nur in einem denkenden Wesen können Ärger, Rechthaberei, Aggression und Neid vorkommen und ausagiert werden. Das daraus entstehende Leid kennen wir alle.

Wir werden schon als Kinder dazu gebracht, die Welt über das Denken wahrzunehmen, zu verstehen und zu interpretieren. Der Wert des sinnlichen Erlebens spielt eine untergeordnete Rolle. Und um die negativen Auswirkungen dieser Konditionierung im Zaum zu halten, werden wir erzogen. Uns werden die Regeln der Gesellschaft und des Zusammenlebens beigebracht, deren Nichtbefolgung unter Strafe stehen. Das nennen wir Zivilisiertheit, ein auf vernünftiger Einsicht beruhendes Verhalten.

Das auf dem Vorrang des Denkens beruhende Weltbild kann sich naturgemäß eine friedliche Welt ohne Gesetze und Strafen nicht vorstellen. Zu erkennen, dass die Kriege, die Ausbeutung, die Gewalt, alles Leid erst dadurch entstehen, dass wir über das Denken funktionieren und nicht über das Fühlen, das direkte Wahrnehmen, ist dem Denken nur möglich, wenn es seine eigene Vorherrschaft in Frage stellt. Das brächte eventuell die radikale Wandlung, die die Menschheit braucht, um zu überleben.

Wer einen anderen Menschen fühlt, kann ihm nichts zu Leide tun. Nur das Denken sieht im Anderen einen Feind, letzten Endes einen Un-Menschen, der keinerlei Verständnis verdient, Anerkennung oder gar Mitgefühl. Diese Haltung liegt nicht nur den kriegerischen Auseinandersetzungen zugrunde, sondern ist in allen politischen, gesellschaftlichen Diskussionen zu sehen.

Das menschliche Miteinander krankt u.a. daran, dass wir uns ein Bild vom Anderen machen, das aus dem in der Vergangenheit Erlebten besteht. Wir begegnen dem Gegenüber nicht mehr unmittelbar, sondern z. B. auf dem Hintergrund der erfahrenen Enttäuschungen. Wir bemerken jedoch nicht, dass unser Gedächtnis hochgradig selektiv ist und damit dem Anderen nicht gerecht wird. Um uns vor der Wiederholung erlebter Kränkungen zu schützen, bauen wir eine innere Mauer auf. Die Erinnerung vieler Menschen ist daher z.B. davon geprägt, welches Leid ihnen von den Eltern zugefügt worden ist. Die Einsicht, dass die Eltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes getan haben, müssen wir uns erst wieder mühsam erarbeiten.

So wie an unseren Bildern hängen wir auch an alten Vorstellungen und Prinzipien, die sich früher einmal bewährt haben. Jeder weiß, wie schwierig es ist, sein eigenes von alten Mustern bestimmtes Verhalten überhaupt zu durchschauen, geschweige denn zu ändern. So unterliegt unser vom Denken bestimmtes Sein dem früher Gedachten, der Erinnerung aus dem Gedächtnis, auch wenn es heute alles andere als nützlich ist.

Der so erfolgreiche Einsatz des Verstandes bei technischen Aufgaben hat die Menschen das Denken auch zur Lösung ihrer psychischen Probleme einsetzen lassen. Wir glauben, uns mit Hilfe des Verstandes ändern zu können und wenden uns den Gedanken zu, wenn es uns schlecht geht. Anstatt das eventuell Unangenehme nur zu fühlen und seine Auflösung zu ermöglichen, wollen wir es weghaben, denken darüber nach und halten so das Leid am Leben. Statt mit unserem ganzen Wesen unsere aggressive Natur zu sehen, wodurch sie vielleicht auf natürliche Weise enden würde, erdenken wir uns das Ideal eines Gegenteils und nehmen uns vor, uns zu ändern. Das Denken erliegt der Illusion, dass es sich selber objektiv anschauen und korrigierende Maßnahmen ergreifen kann. Tatsächlich ist jedoch der Beobachter identisch mit dem Beobachteten und glaubt, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Wir errichten dadurch in uns einen Konflikt, der das Problem auf keinen Fall grundsätzlich lösen kann, sondern es im Gegenteil sogar vor seiner Auflösung schützt.

 

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Wenn das stimmt, was Krishnamurti sagt, stellt sich die Frage, was man denn tun könne. Er sprach davon, dass das Denken seine eigene Begrenztheit erkennen und sein eigenes Scheitern einsehen müsse. Die notwendige radikale Veränderung des Bewusstseins könne nicht vom Denken bewirkt werden. Aber was kann man gegen die Herrschaft des Denkens tun?

Krishnamurti war nicht der erste, der es als notwendige Voraussetzung für geistiges und sprirituelles Wachstum ansah, das Denken enden lassen zu können oder davon unabhängig zu werden. Es wird im Yoga als Hauptziel angesehen, die geistigen Bewegungen zur Ruhe kommen zu lassen. Die Beendigung des inneren Dialogs ist eine der wesentlichen Forderungen Don Juans an seine Schüler, wie in den Büchern Castanedas zu lesen ist. Im Zen-Buddhismus wird versucht, die Schüler durch vom Verstand nicht beantwortbare Fragen (Koans) über das Denken hinaus zu führen, und Stilleübungen sind wichtiger Bestandteil vieler spiritueller Richtungen.

Krishnamurti sah jedoch, dass jede Vorgehensweise, die von dem auf dem Denken beruhenden Geisteszustand ausgeht, um in den anderen zu kommen, zum Scheitern verurteilt ist. Das Denken beenden zu wollen, ist nur wieder eine auf Denken beruhende Absicht. Jede Suche, jedes Tun ruht letztlich im Denken und kommt nicht darüber hinaus. Es gibt keine „Methode“, wie man die Dominanz des Denkens beenden kann. Krishnamurti hielt sogar jede diesbezügliche Anstrengung für sinnlos. Stattdessen muss „gesehen“, erlebt, nicht nur verstanden werden, dass wir gar nicht als freie Wesen denken, sondern uns auf einer vor dem Denken liegenden Ebene für das Wahrnehmen der im Gehirn entstehenden Gedanken entscheiden. Das der Fähigkeit der Wahrnehmung zugrunde liegende Gewahrsein (awareness), die allerinnerste Instanz von Bewusstheit, existiert auch ohne Inhalt, ohne Fokussierung. Das, was Krishnamurti „choiceless awareness“ genannt hat, ist der Zustand, in welchem das Gewahrsein auf die Gedanken und unmittelbares sinnliches Wahrnehmen gleichermaßen verteilt ist. Eine Bewusstheit, die erstmal nichts auswählt.

In diesem Zustand gibt es kein Ich, keinen Eigenwillen. Wir erleben die über die Sinnesorgane wahrgenommene Welt direkt, ohne Benennung und ohne Verstehen. Wir benutzen das Denken nur, wenn wir es brauchen. Ein reaktionsloses, stilles Sein.

Da wir jedoch in einer Welt aufwachsen, die das Beurteilen und Verstehen höher schätzt als das unmittelbare Erleben, werden wir schon in früher Kindheit konditioniert, das Erlebte mit Hilfe des Denkens zu verarbeiten und das Denken zu bevorzugen gegenüber dem Schauen, Lauschen und Verweilen mit dem, was ist. Wir werden erzogen, unser Gewahrsein hauptsächlich ins Denken zu lenken und erleben die Welt nicht mehr direkt, sondern als die vom Denken beschriebene Welt. Damit entsteht dann auch die Identifikation mit den dort ablaufenden Prozessen. Es entsteht die Idee eines Ichs, das von anderen getrennt ist. Und solange das die Grundlage des Bewusstseins ist, gibt es keinen Ausweg.

Krishnamurti betonte deswegen immer wieder die Wichtigkeit des genauen Beobachtens. Ein Sehen und Hören, das nicht von Worten und damit von Erinnern, Vergleichen und Bewerten begleitet ist. So wie ein kleines Kind sieht und hört, das noch keine Sprache hat. Wir sind auch als Erwachsene noch dazu in der Lage. Aber es braucht ein Umgewöhnen. Es braucht ein Aufhören. Aufhören damit, das Gewahrsein sofort der vom Denken kommenden Beschreibung des Gesehenen zuzuwenden, sondern im Sehen, im Schauen, im Lauschen bleiben. Wer es tut, erlebt eine andere Welt. In dieser Welt kommt der Wunsch des Verstehenwollens nicht auf. Freiheit und Frieden werden nicht gesucht, weil sie als natürlicher Zustand erlebt werden. Jedes Tun ist dann richtig. Es gibt kein anderes Handeln als eines aus Liebe und Mitgefühl heraus.

 

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Wir können nichts wissen über das „Andere“, höchstens Vorstellungen haben, die sich aus dem Bekannten zusammensetzen. Das ganz Andere kann jedoch nicht von dem her begriffen werden, was wir wissen. Die Anwendung des uns Bekannten kann nicht ins Unbekannte führen. Wenn das eingesehen wird, kommt unser Geist zum Stillstand, dem Zustand des Nicht-Wissens. Dann erst kann das „Andere“ sichtbar werden.


Erschienen in „YOGA aktuell“, Juni 2015

Für Veranstaltungen „Krishnamurti verstehen“ siehe www.stillekreis.de

Weitere Infos: www.jkrishnamurti.de