Die Giraffe

Die Giraffe Gisela war ein einsames Wesen. Sie fühlte sich so weit weg von den anderen Tieren und gar nicht mit ihnen verbunden. Zum Teil lag das daran, dass sie nicht so mitbekam, was die anderen Tiere so miteinander redeten und was da vor sich ging. Die sprachen einfach nicht laut genug.

Nur gelegentlich kam ein Kolibri zu ihr nach oben geflogen. Er mochte Gisela und hatte Mitgefühl mit ihr, hielt sie über die neuesten Entwicklungen da unten auf dem Laufenden, und es kam auch mal zu dem einen oder anderen persönlichen Austausch. Aber die meiste Zeit war die Giraffe mit sich allein. Sie genoss zwar den großen Überblick, den sie von da oben hatte, aber was sich so im Einzelnen zwischen den Tieren abspielte, bekam sie nicht mit, außer eben gelegentlich durch den Kolibri.

Wenn die da unten wenigstens etwas lauter reden würden, das würde doch schon helfen. Das hatte Gisela den anderen Tieren auch schon deutlich signalisiert, indem sie immer kräftig mit ihren Ohren wackelte, wenn sie merkte, dass da unten ein Gespräch stattfand. Das hätten die doch merken müssen. Die da unten sahen in dem Ohrenwackeln jedoch nur ein freundliches Winken, freuten sich, dass es der Giraffe anscheinend gut ging und wackelten, so gut sie das konnten, auch mit den Ohren. Da Gisela jedoch glaubte, sie würden sich über sie lustig machten, ärgerte sie sich über die Tiere.

Gisela hatte schon als kleines Giräffchen hoch hinaus gewollt. Schon immer hatte sie den Hals besonders lang gereckt, um nur ja mindestens so groß zu werden wie die anderen Giraffen. Als erwachsene Giraffe glaubte sie sogar, es sei zum guten Teil ihrer eigenen Anstrengung zu verdanken, dass sie so einen besonders langen Hals hatte. Na ja, und umgekehrt dachte sie, wenn die anderen Tiere sich mehr angestrengt hätten, dann hätten sie es auch zu mehr bringen können.

Insgeheim war sie deswegen ziemlich sauer auf die anderen Tiere. Wegen denen war sie so einsam und konnte sich kaum mit jemand unterhalten. Eigentlich war sie zwar traurig über den mangelnden Kontakt, aber wie Tiere so sind, bevorzugte sie es, sauer zu sein.

Irgendwann einmal, als die große Regenzeit alles in Matsch verwandelt hatte, machte die Giraffe ein paar unvorsichtige Schritte, rutschte unglücklich aus und ging dabei unfreiwillig in die Grätsche. Buchstäblich. Sie landete unsanft auf dem Bauch und streckte alle Viere von sich. Sie hatte sich zwar nichts gebrochen, aber alle ihre vier Hüftgelenke waren heillos überdehnt. Sie war sich gleich im Klaren darüber, dass sie ohne fremde Hilfe so schnell nicht wieder auf die Beine kommen würde.

Von ganz oben gesehen, sah das ziemlich komisch aus, wie sie da lag. Nur den langen Hals konnte sie noch bewegen, aber die anderen Tiere, die gleich herbeieilten, sahen vor allem, dass Gisela vollkommen hilflos war. Sie redeten ihr gut zu und meinten, bestimmt könne ihr der Elefant wieder auf die Beine helfen. Der war jedoch gerade auf einer Safari unterwegs und es würde ein paar Tage dauern, bis er und seine Herde wieder zurück sein würden.

In der Zwischenzeit kümmerten sich die anderen Tiere um die Giraffe. Sie brachten ihr was zu essen und unterhielten sich mit ihr über dies und das. Erzählten davon, wie sie selber auch schon mal ganz schlimm in der Patsche gesessen hatten, das könne jedem mal passieren. Es war eigentlich richtig nett zwischen ihnen, dachte die Giraffe, die schon lange nicht mehr so viel mit anderen geredet hatte. Die Tiere und die Giraffe kamen sich viel näher, als sie es jemals vorher gewesen waren und es entwickelte sich sogar sowas wie Freundschaft. Und so gestand Gisela den anderen Tieren auch, dass sie sich manchmal schon ziemlich einsam fühlte mit ihrem Kopf da oben in den Baumwipfeln und dass sie da auch ein bisschen neidisch war auf die Tierwelt da unten und dass sie ja da oben das meiste einfach akustisch nicht verstand.

Das konnten die anderen Tiere natürlich verstehen und versprachen, in Zukunft lauter und deutlicher zu sprechen und einige, also die, die auf Bäume klettern konnten, versprachen sogar, öfter mal in die Baumwipfel auf ein kleines Schwätzchen zu kommen. Das rührte Gisela so, dass ihr sogar ein paar Tränen die Wangen herunterliefen. Das wiederum rührte die umstehenden Tiere so, dass auch sie Tränen in den Augen hatten. Und das wiederum rührte Gisela. Es war alles ungemein rührend.

Schließlich kam die Elefantenherde von ihrem Ausflug zurück und sie kümmerten sich gleich um die Verunglückte. Die war inzwischen gar nicht mehr so unglücklich, sondern ganz glücklich über die Warmherzigkeit, die ihr hier unten begegnete und sie sah das Glück, das sie im Unglück gehabt hatte.

Sie hatte immer geglaubt, von da oben den Überblick zu haben, aber sie sah ein, dass sie die Tiere falsch eingeschätzt hatte, aber es kann ja leicht passieren, dass man etwas übersieht bei so einem langen Hals.

Tatsächlich brauchte es mehrere Elefanten, weil die Giraffe richtig tief im Schlamm steckte. Es dauerte noch einige Zeit, bis Gisela wieder ordentlich laufen konnte. Aber sie freute sich an den neu gewonnenen Freunden und legte sich sogar ab und zu mal zu ihnen hin, was sie früher nie getan hatte, weil es halt für sie doch recht mühsam war, aus dem Liegen wieder zum Stehen zu kommen. Aber jetzt waren ihr das die netten Unterhaltungen mit diesen netten Tierchen da unten wert.