Die Auster

Die Eltern der Auster waren unzufriedene Leute gewesen und unzufriedene Leute versäumen es in der Regel, ihre Kinder ausreichend zu loben. Darunter hatte auch die Auster leiden müssen und entwickelte folglich eine Neurose. Sie sehnte sich nämlich ihr ganzes Leben lang nach Lob und Anerkennung, und weil sie so wenig davon bekam, war sie mit sich selber unzufrieden.

Sie haderte nicht nur mit sich selber, sondern auch mit ihrem Aussehen, ihrer rauen Schale, und beneidete deswegen die anderen Muscheln, die so hübsche Muster hatten. Aber wie alle Austern hatte sie eine innere Qualität: sie konnte Perlen herstellen, das konnten die anderen nicht.

Um diese Kunst zu verfeinern, hatte sie extra Kurse besucht, um zu lernen, besonders schöne Perlen herzustellen. Zum einen wollte sie dafür natürlich gelobt werden und in ihrer neurotischen Eitelkeit träumte sie davon, von den anderen Meerestieren für ihre Kunst bewundert zu werden. Aber sie wollte auch die anderen Unterwassertiere damit erfreuen und überhaupt die Welt ein bisschen schöner machen.

Aber ihre Kunst litt darunter, dass sie einfach nicht lange genug die Klappen halten konnte. Sie redete viel zuviel und wusste ständig etwas zu erzählen, auch wenn es für die Zuhörer manchmal gar nicht so interessant war. In ihrem langen Leben und auf ihren vielen Reisen war ihr nämlich viel Seemannsgarn und Anglerlatein begegnet, das sie bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zum Besten geben musste. Nichts liebte sie mehr, als im Mittelpunkt zu stehen und den einen oder anderen immer gut vorbereiteten Scherz zum Besten zu geben. Wenn sie dann die Lacher auf ihrer Seite hatte oder sogar Applaus bekam, das war für sie der Himmel. Beim Reden verlor sie jedoch jedesmal die gerade wachsenden Perlen und die fielen deshalb immer nur sehr klein aus.

Darüber ärgerte die Auster sich dann hinterher immer gleich, aber sie war auch ein bisschen verträumt und tröstete sich dann sofort damit, wie schön es um sie herum glitzerte, auch wenn die meisten Perlen nicht größer als Sandkörner waren und kaum jemand sie beachtete.

Aber irgendwann wurde der Wunsch der Auster doch stärker, der Welt zu zeigen, was in ihr steckte und einmal eine richtig große wunderbare Perle in sich wachsen zu lassen. Deshalb hat sie sich vor kurzem für ein Schweigeretreat für Austern angemeldet.

Und die Geschichte geht dann weiter, wenn sie davon wieder zurückkommt.