Der Kleiber

Der Kleiber kleibte den ganzen Tag. Baum hoch, Baum runter. Immer Kopf unten.
So war er halt. Ein echter Kleiber, dachte er. Echte Kleiber haben den Kopf immer unten.
Schon immer. Und das wird auch immer so sein.

Ich kleibe, du kleibst, er kleibt, alle kleiben.
Kleiben, kleben, kloben, klauben.
Wer kleibt, der klaubt.
Wer bleiben will, muss klauben.
Klauben, klauben, klauben.
Ich glaube an das Klauben.

Unser Kleiber war ein gläubiger Kleiber. Und als echter Kleiber wollte er auch unbedingt wissen, was eigentlich los ist in der Welt und was der Sinn des Lebens ist. So klaubte der Kleiber alles zusammen, was er kriegen konnte.
Jedem Lehrer hörte er zu. Allen Weisen der Welt hörte er zu.
Und klaubte und klaubte alle Weisheiten der Welt zusammen.
Er klaubte und schraubte und baute ein Weltbild, das alle Weisheiten der Welt vereinigen sollte.
Er sammelte sie alle und steckte sie unter seine Flügel, dicht an seinem Herzen.
Damit fühlte er sich sicher. Er glaubte an das Zusammengeklaubte

Kleiben, kleiben, kleiben, kleiben.
Ich kleibe, du kleibst, er kleibt.
Ich kleibe, ich klieb, ich bin geklieben.
Ich glaube, ich glieb, ich bin geblieben.

Auch wenn er für sich das größte Rätsel der Welt gelöst hatte, wunderte er sich über etwas.
Warum laufen die anderen nur alle mit dem Kopf an der falschen Stelle herum?
Merken die nicht, dass da was nicht stimmt?
Sie müssen doch den ganzen Tag Kopfschmerzen haben und er wollte sie davon befreien.
Aber niemand wollte sich von ihm belehren lassen.
So sehr er sich auch den Kopf zermarterte, was er da tun könne, es blieb ihm ein Rätsel.
Dass er dieses Problem nicht lösen konnte, ließ ihn allmählich wahnsinnig werden.

Ich habe es gefunden, wonach alle suchen.
Ich bin kein gewöhnlicher sterblicher Kleiber.
Ich bin die Krone der Schöpfung, ein Super-Kleiber.
Ich kleibe und ich kleibe und ich kleibe und ich kleibe.
Ich glaube, also kleibe ich, also bleibe ich.

Wie alle Kleiber, lag auch unser Kleiber voll daneben. Den ersten Irrtum musste er einsehen als er älter und schwächer wurde. Er konnte nur noch langsam und manchmal nur noch mühsam die Bäume hoch und runterkleiben. Und eines Tages versagten ihm seine klaubenden Krallen den Dienst. Er fiel vom Baum.
Wie durch ein Wunder hatte er sich fast keine Verletzungen zugezogen. Aber bei dem heftigen Aufprall auf dem Boden, hatte sich sein Gehirn im Kopf gedreht – und war nun verkehrt rum. Und auf einmal hielt er es für besser und für das Richtige, dass der Kopf oben ist. Er war zwar noch etwas benommen, aber er erinnerte sich gleich daran, dass er früher schon öfter mal Zweifel an seiner Sichtweise gehabt hätte und irgendwie hatte er das eigentlich schon geahnt, sagen wir: gewusst, dass die damalige Sichtweise nicht die richtige sein konnte.
Man muss sich auch mal irren können, sagte er sich.
Das muss drin sein

Er schüttelte nochmal kräftig sein Gefieder, schaute sich um, ob jemand seinen Sturz gesehen haben könnte, und ging dann, noch leicht schwankend, aber hocherhobenen Hauptes von dannen.
Manchmal hörten ihn die anderen Kleiber noch etwas faseln von Weltuntergang, und er habe es immer schon gewusst. Wer es wissen wolle, brauche nur ihn zu fragen.
Aber niemand fragte ihn.
In seinem Alter kam es ja öfter vor, dass ein Kleiber ein ganz verkleibtes Gehirn entwickelte, aus dessen Gefasel man nicht mehr schlau wurde.