Der Bussard

Irgendwann spürte der Bussard, dass das einsame Leben, dass er hoch oben in seinem mickrigen Nest führte, nicht das wahre Leben sei. Er bekam immer mehr mit, was für ein fröhliches Leben die anderen Bussarde weiter unten im Baum hatten. Er schlief nicht mehr richtig und nur Mäuse jagen machte ihm keinen Spaß mehr. Auch wurden die Mäuse immer schlauer und schwieriger zu fangen, bzw. die weniger schlauen Mäuse hatte er alle schon geschnappt.

Zuerst besorgte sich der unglückliche Bussard mal Literatur und las von morgens bis spät in die Nacht hinein. Er wollte endlich herausfinden, wie man glücklich werden könnte. Auch wenn die Bücher alle was anderes sagten, hatte er sich doch bald eine Philosophie zusammengebastelt, von der er glaubte, es sei die höchste Wahrheit. Der Bussard war nämlich sehr klug. Wie die meisten Klugen war er nicht klug genug, um sich selber zu durchschauen, aber klug genug, um von den Halbklugen mit großem Respekt angeschaut zu werden.

Er begann, große Reden zu halten. Es gefiel ihm dabei, dass die anderen Bussarde zu ihm aufschauten. Aber was hätten sie auch anderes tun sollen, er saß ja ganz oben im Baum.

Wenn er sprach, breitete er seine Flügel weit aus, um die Bedeutung seiner Rede zu unterstreichen. Er hatte sogar gelernt, eine Feder ein bisschen nach oben abzuspreizen, was dann wie ein erhobener Zeigefinger aussah und allen Zuhörern tierischen Eindruck machte.

Leider hatte er jedoch eine sehr konzentrierte Sprechweise. Er ließ seinem Ausdruck nicht freien Lauf, sondern wählte die Worte sehr, sehr gewählt, sehr bedacht darauf, ganz genau den Punkt zu treffen. Genau deshalb verfehlte er meistens den Punkt, denn der wird den Zuhörern deutlicher, wenn man auch ein bisschen das Drumherum beschreibt. Seine Sätze waren aber ganz knapp gefasst, fast schon chiffriert und oft hätte er selber nicht genau sagen können, was er da gemeint hatte. Aber weil die Tiere so einen Respekt vor ihm und seinem Gehabe hatten, fragte ihn selten jemand, was er eigentlich meinte.

So war er weiterhin ziemlich einsam, kaum jemand hatte Lust, mit ihm zu reden. Er aber fühlte sich mit allen verbunden und erzählte jedem, sein Leben habe eine deutliche Wende genommen.

Die große Wende kam aber erst, als er älter und schwächer wurde, so dass er eines Tages sogar aus dem Nest fiel. Der liebe Gott hatte jedoch gerade mal gut aufgepasst und in seiner unerfindlichen Güte dafür gesort, dass weiter unten im Baum genau unter dem Nest des Bussards sich ein sehr großes ehemaliges Familiennest befand, in das er fiel und sich so keine großen Verletzungen zuzog. Sofort richtete er sich auf, schüttelte sein Federkleid und meinte zu den herbeieilenden anderen Bussarden, er käme schon zurecht, sie sollten sich keine Sorgen machen. Die aber hatten ein Herz mit ihm. Sie ließen sich nicht von seiner rauen Schale täuschen, sondern sahen, wie hilfsbedürftig der alte Bussard war. Anfangs sträubte er sich noch mit Haut und Haaren, wie man so sagt, aber da seine Versuche, wieder in sein Nest zurückzukehren, alle kläglich scheiterten, ergab er sich schließlich in sein „Schicksal“, freundete sich mit den anderen Bussarden an und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben richtig geborgen.

Aber einiges an ihm war halt nun mal unverbesserlich. Sobald er wieder zu Kräften gekommen war, fing er wieder an, große Reden zu schwingen. Er sprach von den wichtigen Erfahrungen, die er gemacht habe und erklärte allen, die gerade in der Nähe waren, was man tun müsse, um wirklich glücklich zu werden. Da ihn die anderen Bussarde aber von Herzen gern hatten, ließen sie ihn reden und taten so, als wären sie tief beeindruckt und dankbar, dass er seine Weisheit mit ihnen teilte.