Das kleine Entlein

Das Entlein lebte in einem großen Teich. Es liebte es, auf dem Teich mit seinen zahlreichen Freundinnen seine Runden zu drehen, ab und zu mal unterzutauchen und ab und zu mal am Rande des Teiches einfach in der Sonne zu sitzen und nichts zu tun.

Wie die meisten Teiche, so war auch dieser umgeben von einem schönen grünen Wald. Enten gehen normalerweise nicht gerne spazieren. Erstens ist das gefährlich wegen der Wölfe und anderer Raubtiere und zweitens können Enten ja gar nicht gut spazieren gehen. Es ist eher ein Watscheln. Schon nach ein paar Metern ist man erschöpft und muss sich ausruhen.

Aber unser Entlein war neugierig. Und manchmal war seine Neugier größer als seine Angst und es lief ein paar Watschelschritte in den Wald hinein. Seine Freundinnen waren darüber entsetzt und warnten es eindringlich vor den Gefahren des Waldes. Aber das Entlein ließ sich gar nicht gerne was sagen und war, wie gesagt, auch ziemlich neugierig. Es wollte auch mal was Besonderes erleben und würde es dann stolz seinen Freundinnen erzählen. Also besuchte das Entlein immer wieder mal den Wald und schaute sich dort um.

Eines Tages begegnet ihm ein Hirschkäfer. „Gott, bist du hässlich,“ entfuhr es dem Entlein sofort. Es mochte solche aufgeblasenen Typen mit einem Geweih überhaupt nicht – oder was immer das war, was der Hirschkäfer da am Kopf hatte. Der Hirschkäfer war etwas beleidigt und sagte schroff zu ihm: „Was willst du denn, du eingebildetes, trauriges Würstchen!“

„Ich? Ich bin doch nicht traurig! ,“ entgegnete das Entlein, „Ich gehöre zu den glücklichsten Enten in unserem Teich. Und wenn hier jemand eingebildet ist, dann bist du das!“ Sprach´s und watschelte in seiner unbeholfenen Art hocherhobenen Hauptes zurück zum Teich.

Als es den Vorfall seinen Freundinnen erzählte, fühlten die sich natürlich bestätigt. Sie hatten zwar noch nie von einem eingebildeten Hirschkäfer gehört, aber sie fühlten sich darin bestärkt, niemals mehr als fünf Schritte in den Wald zu tun, um gegebenenfalls schnell wieder in den einigermaßen sicheren Teich flüchten zu können.

Was war es, was das Entlein von nun an nicht mehr ganz so glücklich und zufrieden sein ließ? Man weiß es nicht, und das Entlein wusste es auch nicht. Immer wieder dachte es an den schönen glänzenden Panzer, den der Hirschkäfer hatte und es ertappte sich dabei, dass es ein bisschen neidisch auf ihn war. „Mit so einem Panzer fühlt man sich bestimmt schön sicher“, dachte es, „Ich dagegen, wenn ich nicht gerade untergetaucht bin, mich braucht doch nur irgendeiner mit Zähnen ein bisschen zu beißen und dann bin ich tot.“

Als die Neugier wieder mal über seine Angst die Oberhand gewann, machte sich das Entlein wieder auf den Weg in den Wald und hoffte sogar insgeheim, dem Hirschkäfer zu begegnen. Diesmal nahm es sich vor, nicht gleich so unfreundlich zu sein. Vielleicht konnte sie sogar den Hirschkäfer zu ihrem Freund machen und er würde sie gegebenenfalls beschützen mit seinem, in ihren Augen riesengroßen, gefährlich aussehenden Geweih.

Tatsächlich traf es ihn wieder und diesmal kamen sie ins Gespräch. Sie entwickelten im Lauf der Zeit sogar so etwas wie eine Beziehung. Auch wenn es das Entlein ärgerte, dass der Hirschkäfer nicht davon zu überzeugen war, dass es glücklich und zufrieden war. Und wenn das Entlein ärgerlich war, dann konnte es Gift und Galle spucken, die auch den Hirschkäfer traf. Aber der Hirschkäfer hatte zwar nur ein kleines Herz, jedoch ein gutes. Also erzählte er dem Entlein von einem Wunderteich. Man bräuchte gar nicht weit durch den Wald zu krabbeln, da würde man ihn schon sehen. Und wenn man ein Mal in diesem Teich gebadet hatte, würde man alle Sorgen verlieren und würde gar nicht mehr woanders schwimmen wollen. Er selber konnte das natürlich nicht mit Sicherheit sagen, Hirschkäfer baden ja nicht. Aber er sagte, alle seine Freunde und überhaupt jeder im Wald wüsste, dass das stimmte, was er sagte. Nur die, die den Teich nicht kennten, hielten das für einen Aberglauben.

Wie geht die Geschichte nun aus? Wird es das kleine traurige schöne Entlein riskieren? Das mit dem Wunderteich hört sich ja schon verlockend an, aber es müsste dann viel tiefer in den Wald eindringen, als es das bisher gewagt hatte. Und davor hatte es ganz schön Schiss.

Der jetzige Stand der Dinge ist, dass das Entlein noch am Überlegen ist. Es hat zwar inzwischen eingesehen, dass es schon ab und zu ein bisschen traurig ist. Aber soooo schlimm ist es nun auch nicht. Und die anderen Enten im Teich sind auch nicht den ganzen Tag glücklich. Damit kann man doch anscheinend ganz gut leben.

Wird also die Verlockung siegen? Oder bleibt das Entlein in seinem gewohnten Teich und wird zu einer gewohnten alten Ente und warnt seine Kinder davor, in den Wald zu gehen, weil man da so gefährlichen Leuten wie den Hirschkäfern begegnet, die einem das Blaue vom Himmel herab versprechen?

Wir können davon ausgehen, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Bestimmt nimmt das Entlein irgendwann seinen ganzen Mut zusammen und watschelt zu diesem legendären Teich und badet darin. Als sie wieder ans Ufer kommt, sitzt dann dort bestimmt ein hässlicher Frosch, das Entlein erinnert sich an die Märchen, die es gehört hat, küsst ihn und er verwandelt sich in einen Prinzen.

„Was soll ich denn mit einem Prinzen“, sagt das Entlein dann, „ich brauche einen Enterich.“ „Vielleicht, wenn ich ihn nochmal küsse …“, denkt es bei sich. Und siehe da, nach diesem zweiten Kuss wird aus dem Prinzen ein wunderschöner Enterich.

Bald wird die Vermählung vollzogen und sie leben glücklich bis an ihr Lebensende.


Ganz bestimmt ist also am Ende dieser Geschichte alles gut.
Und wenn nicht alles gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.