Das Glühwürmchen

In die Schule ist das Glühwürmchen nie gerne gegangen. Es gehörte auch nicht zu den Besseren. Vielmehr war es so, dass die Lehrer ihm immer mal wieder klar machen wollten, dass es eher ein kleines Licht war. Sein inneres Gefühl sagte ihm aber, dass das nicht stimmen könne und es wusste ganz sicher, dass in ihm eine große Leuchte steckte.

Also begann das Glühwürmchen zu lesen und sich weiterzubilden. Aus einem besonders dicken Weisheitsbuch ließ ihn ein Satz nicht mehr los. Dort stand als Empfehlung zum Glücklichsein, man solle sich selbst ein Licht sein. Damit konnte das Glühwürmchen erstmal gar nichts anfangen. Wenn es durch die Gegend flog, merkte es nichts von seiner Leuchtkraft.
Aber als es wieder einmal spätabends auf dem Boden herumkrabbelte – denn Glühwürmchen sind ja eigentlich Käfer – ging ihm ein Licht auf. Es konnte den Boden vor sich sehen. Das muss es sein, meinte das Glühwürmchen. Ich leuchte mir den Weg. Und nicht nur das, es konnte natürlich auch seine Füßchen beleuchten, konnte seine kleinen Fühlerchen und mit ein bisschen Halsverdrehen sogar seine Flügelchen sehen. Jetzt verstehe ich, sagte das Glühwürmchen zu sich selber. Es war entzückt davon, sogar im Dunkeln genau beobachten zu können, wie es beim Krabbeln ein Füßchen vor das andere setzte und war begeistert darüber, das ganz genau verstehen zu können. Jetzt sehe ich, wer ich bin und was um mich herum los ist, sagte das Glühwürmchen. Es war überglücklich, am Ziel seines Weges angekommen zu sein und es glaubte, das Wesen aller Dinge erkannt zu haben.

Wie alle überschwänglichen Glücksgefühle, so hielt jedoch auch dieses Glücksgefühl nicht sehr lange an. Irgendwie kam in dem Glühwürmchen immer mal wieder und immer öfter ein inneres Unbehagen auf. Es begann deswegen, wieder in dem dicken Weisheitsbuch zu lesen, aber weil es fest überzeugt war, den Sinn des Daseins schon verstanden zu haben, entdeckte es dort nichts, was ihm hätte helfen können.

Zu dieser inneren Unzufriedenheit kam noch etwas Körperliches hinzu. Das Glühwürmchen war nämlich noch alleinstehend und sein Fortpflanzungstrieb verlangte dringend nach einer Partnerin. Am Boden krabbelnd waren diese begehrten Weibchen jedoch kaum zu entdecken, also begab es sich wieder in die Lüfte. Und aus Gewohnheit leuchtete es, auch wenn das beim Fliegen ja gar keinen Sinn hatte, wie es glaubte.

Enttäuscht stellte das Glühwürmchen fest, dass da oben nur Männchen herumflogen. Es hatte in Biologie nicht aufgepasst und wusste also nicht, dass die hübschen Glühwürmchenweibchen nicht fliegen können. Sie leben am Boden und müssen warten, bis ein Männchen sie entdeckt. Und damit sie entdeckt werden, leuchten sie, besonders dann, wenn sie so etwas Leuchtendes durch die Luft fliegen sehen. Dieses Leuchten am Boden bemerkte unser Glühwürmchen natürlich auch, und so kam es bald zu einer intensiven Liebesbeziehung mit einem attraktiven Weibchen. Sie entdeckten nach kurzer Zeit, dass sie wunderbar zueinander passten. Sie konnten gar nicht genug davon kriegen, sich gegenseitig anzustrahlen, und ihr gemeinsames Leuchten wurde zu einem Ausdruck ihres Glücks, einander gefunden zu haben.

So kam das Glühwürmchen doch noch ab von seiner ständigen Selbstbeleuchtung und entdeckte den tieferen Sinn des Leuchtens. In den Augen seiner Partnerin konnte es nämlich etwas sehen, wofür es vorher blind gewesen war. Es konnte zwar nicht verstehen, was es da sehen konnte und warum es das so faszinierte, aber das war ihm auch grad egal.

So wurde aus dem Glühwürmchen doch noch ein Glückskäfer.